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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind
Autoren: Cate Tiernan
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schien sich zu sammeln. Dann kippte er sich irgendetwas von dem Seelentrösterzeug, das hier so getrunken wurde, hinter die Binde. Das Brennen in seiner Kehle bemerkte er längst nicht mehr. Während er sich mit dem Ärmel seines Arbeitsshirts über den Mund wischte, versuchten seine dunklen, halb geschlossenen Augen angestrengt, Claire zu fokussieren. Seine Gegnerin.
    Für einen Moment wurde sie durch das Klingeln des Telefons an der Barwand abgelenkt.
    Geh ran, Claire. Und frag nicht, für wen der Anruf ist, er ist für dich …
    Das Klingeln wurde weggeblinzelt wie ein lästiges Insekt. Claire lächelte und die Menge jubelte angesichts von so viel Draufgängertum. Irgendjemand kippte ein weiteres Glas Hochprozentiges hinunter; eine unbeschriftete Flasche neigte sich wie durch Zauberhand nach vorne und verschüttete weiteren Fusel, füllte die Gläser und ergoss sich über den Tisch.
    Die Menge begann rhythmisch zu klatschen und irgendetwas zu rufen. Ihren Namen? Irgendein asiatisches Wort, das so viel bedeutete wie »v errückte weiße Lady«? Daedalus wusste es nicht. Sie würde nicht ans Telefon gehen– und die anderen genauso wenig. Sie würde seine Nachricht nicht hören. Er musste versuchen, sie zu erwischen, sobald sie etwas nüchterner war. Viel Glück. Es konnte Tage dauern, wenn nicht mehr, bis sie sich von der heutigen Eskapade erholt hatte.
    Ihre Augen strahlten grün, als würden sie von innen erleuchtet. Claire streckte ihre zittrige Hand nach dem Glas aus. Es schwankte und eine klare Flüssigkeit lief ihr über die Finger. Sie merkte es nicht. Sie hielt sich das Schnapsglas an die Lippen und warf ihren Kopf in den Nacken. Dann knallte sie es triumphierend auf den Tisch zurück. Die Menge grölte zustimmend; Geld wurde unverdeckt von Hand zu Hand weitergereicht. Ihr gegenüber streckte der Asiat seine Hand zum Bluff nach einem weiteren Glas aus, doch dann kippte er langsam auf die Seite und stieß gegen den Tisch. Noch bevor irgendjemand begriff, dass er ohnmächtig wurde, lag er schon am Boden, die Augen geschlossen, das T-Shirt durchnässt.
    Daedalus stöhnte. Na gut, um Claire würde er sich später kümmern.

    Wenigstens bestand bei Marcel keine Gefahr, dass er seine Leber in Schnaps einlegte, dachte Daedalus, schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Mann, der ihm, seit er ihn kannte, ein Rätsel gewesen war. Marcel. Er stellte sich das jugendliche Gesicht vor, die glatte, helle Haut, die blauen Augen, das stumpfe, rotbraune Haar.
    Der Widerschein der Kerzenflamme bewegte sich nicht, während Daedalus in die Kugel starrte. Marcel.
    Daedalus konnte die Kälte förmlich fühlen, die von den Steinwänden in seiner Vision ausging. Er sann darüber nach, dass das Kloster immer gleich aussah, egal, ob er Marcel in der Gegenwart aufsuchte oder vor fünfzig oder hundert Jahren: Da waren die harten, steinernen Wände, das trübe Licht, die geordneten Schreibtischreihen.
    Vor hundert Jahren allerdings wäre jeder Tisch besetzt gewesen. Doch heutzutage gaben nur noch wenige irische Familien ihre Söhne ins Kloster, um einen Mund weniger stopfen zu müssen. Folglich leisteten nur zwei weitere Brüder Marcel in der großen Halle Gesellschaft.
    Marcel saß über ein großes Buch gebeugt: eine alte Handschrift mit farbenprächtigen Miniaturen. Das Blattgold war kaum verblasst, seit es vorsichtig von einem reuigen Diener der Kirche der Heiligen Mutter aufgelegt worden war.
    Während Daedalus seine Nachricht sandte, lächelte er angesichts der Kreativität, die er dabei an den Tag legte. Er war stolz auf seine Stärke. Marcel konnte seine Identität gerne leugnen, doch Daedalus würde das niemals tun. Ouida konnte ihre Kräfte ignorieren, dieselben Kräfte, an denen Daedalus sich täglich weidete. Sophie konnte ihre Zeit mit Lernen oder anderen intellektuellen Bestrebungen füllen. Daedalus würde sie damit verbringen, seine Kraft auszukosten.
    Genau deshalb war er mächtiger als sie. Deshalb war er der Überbringer und sie waren nur die Empfänger.
    Im Kloster krümmten sich Marcels schmale Schultern über das Manuskript. Die kunstvoll gestalteten Seitenränder erfüllten seine Seele mit einer allzu süßen Qual– war es eine Sünde, beim Anblick dieses von Menschenhand gestalteten Werks eine so irdische Freude zu empfinden? Oder waren diese Hände von Gott gelenkt worden, die Eingebungen göttlicher Natur? In diesem Fall wäre Marcels Bewunderung nur ein Ausdruck der Verehrung ihres Herrn.
    Seine
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