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Ein Kelch voll Wind

Ein Kelch voll Wind

Titel: Ein Kelch voll Wind
Autoren: Cate Tiernan
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Lippen bewegten sich kaum, als er die lateinischen Worte las. Doch dann… er runzelte die Stirn. Die Buchstaben bewegten sich… oh nein.
    In Panik blickte Marcel auf. Keiner achtete auf ihn. Er schirmte das Buch mit seinem Körper ab, um die Sicht darauf zu verdecken. Er würde niemals entkommen. Niemals! Und niemals war eine lange Zeit. Also nahm er es hin, dass sich die wunderschön geschwungenen, schwarzen Buchstaben neu zusammensetzten. Er las die Worte, die sich geformt hatten: Wichtig. Dringend. Komm sofort nach New Orleans. Daedalus.
    Marcel fuhr sich mit seinem rauen Ärmel über die Stirn, auf der der kalte Schweiß stand. Dann richtete er sich auf und versuchte, seine Gefühle auszublenden, während er darauf wartete, dass die Worte verschwanden, um sich wieder zu einem lateinischen Gedicht, einem Lobgesang auf den Herrn, anzuordnen. Er musste lange warten.

    Der letzte Sturm hatte das Wasser aufgewühlt, sodass Fischen oder Krabbenfangen eigentlich sinnlos war. Gewiss wäre es besser, zu warten, bis sich die Gewässer wieder beruhigt hatten, eine Woche, vielleicht zwei. Abgesehen von dem Schlick im Wasser, war der Sandstrand mit allen möglichen Arten von Treibholz, toten Fischen, leeren Schildkrötenpanzern und noch viel abstoßenderem menschlichem Unrat übersät. Da lagen zum Beispiel ein Fahrradreifen und der BH von irgendjemandem. Richard hätte wetten können, dass es dazu eine sehr interessante Story zu erzählen gab.
    Er hätte gerne geraucht, aber das letzte Mal, als er sich eine angesteckt hatte, hatten ihm gleich vier verschiedene Umstehende die Hölle heißgemacht. Vielleicht weil er trotz seiner gepiercten Nase, seiner gepiercten Augenbraue und den gut sichtbaren Tattoos noch sehr jung aussah oder weil sie befürchtet hatten, dass dieses wunderschöne Fleckchen Erde verschmutzt würde– er wusste es nicht.
    Ich könnte das Angeln fürs Erste eigentlich genauso gut sein lassen. Zurück nach Hause gehen, schlafen, was auch immer.
    Ein unerwarteter Zug an der Schnur überraschte Richard, beinahe hätte er die Angelrute fallen lassen. Doch seine Hände griffen automatisch fester zu. Schnell drehte er die Rolle. Er hoffte, es wäre kein Seewolf, denn die waren verflucht schwer von der Schnur zu lösen und schmeckten bei dieser Größe nicht einmal. Doch als ein Sonnenstrahl auf etwas Silbernes fiel und hell aufblitzte, wusste er, dass er es mit etwas anderem zu tun hatte.
    Die Angelrolle schnurrte, während er immer weiterzog. Ein langer, schmaler, silbern schimmernder Fischkörper mit kleinen Flecken kam zum Vorschein. Eine Spanische Makrele. Sie war kürzer, als es die vorgeschriebenen Richtlinien erlaubten. Er würde sie zurück ins Wasser werfen müssen. Richard zog die Schnur näher zu sich heran und ließ seine Finger daran hinabgleiten, um den Fisch vom Haken zu lösen.
    Der Mund des Tiers öffnete sich. »R ichard«, krächzte er. Riii-schard. Richard blinzelte und begann zu grinsen. Er blickte sich um– unwahrscheinlich, dass jemand den Fisch würde reden hören. Er lachte. Was für eine absurde Idee! Ein sprechender Fisch! Wirklich zum Totlachen.
    »R ichard«, sagte der Fisch erneut. »K omm zurück nach New Orleans. Es wird sich lohnen, ich verspreche es. Daedalus.«
    Richard wartete noch einen Moment, doch offensichtlich hatte es dem Fisch die Sprache schon wieder verschlagen. Schnell griff Richard nach dem Haken und befreite das Tier. Es fiel gut zwei Meter tief in das olivtrübe Wasser, wobei seine Flanken aufblitzten.
    Hmm, New Orleans. Es war noch nicht allzu lange her, dass er von dort zurück war. Aber doch lange genug. Er grinste. Eine Geschäftsreise. Genau was er brauchte, um sich aufzuheitern.

    Daedalus lachte leise in sich hinein, während er zusah, wie Richard seine Ausrüstung zusammenraffte. Es würde schön sein, ihn wiederzusehen. Aller Wahrscheinlichkeit nach.
    Ein Geräusch aus dem unteren Stockwerk zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Mit kontrollierten Bewegungen machte er die Kerze aus, verstaute die Glaskugel in einem Schrank und breitete ein viereckiges Stück schwarzer Seide über ihr aus. Mit dem Fuß verwischte er den Kreis aus Salz auf dem Boden, dann strich er sich das Haar nach hinten.
    Er war erschöpft, hungrig und durstig. Er hatte sehr viel an nur einem Tag erledigt– vielleicht zu viel. Aber es war ja auch keine Zeit zu verlieren.

Kapitel 4
    Clio
    » J a, sie war richtig sauer«, erklärte Racey und warf ihr strähnig gefärbtes Haar zurück. Sie
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