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Ein guter Jahrgang-iO

Ein guter Jahrgang-iO

Titel: Ein guter Jahrgang-iO
Autoren: Peter Mayle
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ich es nicht in Erinnerung, aber es ist auf jeden Fall ein ziemlich weitläufiges Anwesen.«
    »Mit Weinbergen, sagtest du?«
    »Richtig. Weingärten, genauer gesagt, so weit das Auge reicht.«
    »Aha. Das ist eine Neuigkeit, die eine entsprechende Würdigung verlangt.« Er hob den Arm und machte mit energischen kreisenden Bewegungen den Ober auf sich aufmerksam, verlangte die Weinkarte. »Du weißt, dass ich seit jeher einen guten Tropfen zu schätzen weiß«, sagte er, an Max gewandt. »Jetzt werde ich mein Hobby ernsthaft betreiben und mir einen Weinkeller zulegen. Ich besuche ja seit geraumer Zeit ein Weinseminar in Abendkursen, um die fachkundige Weinverkostung zu lernen. Wirklich aufregend! Ah, da sind Sie ja.« Der Sommelier hatte sich zu ihnen gesellt, und Charlie begann, ihn ins Bild zu setzen. »Wir haben etwas zu feiern«, sagte er. »Mein Freund hat gerade ein Château und einen Weinberg in Frankreich geerbt, deshalb suchen wir etwas Passendes; ich dachte dabei an einen heimischen Wein.« Er hob drohend den Finger. »In Bordeaux heimisch, wohlgemerkt«, ermahnte er den Sommelier. »Ein klassischer roter Bordeaux. Keine von diesen Neuerscheinungen aus der Neuen Welt.«
    Charlie und der Sommelier beugten sich über die Karte und tauschten murmelnd ihr fachmännisches Wissen aus, während Max sich im Raum umsah - glamouröse Frauen und betuchte Männer, Londons privilegierte Schicht, alle in laute Konversation verstrickt. Max hatte plötzlich das Bedürfnis, an einem Ort der Stille zu sein, und dachte an seine Wohnung. So still nun auch wieder nicht. Er blickte abermals auf den Brief und fragte sich, wie viel das Anwesen wohl einbringen mochte, falls er beschließen sollte, es zu verkaufen; mit Sicherheit mehr als genug, um ihn aus der Finanzmisere zu retten, in der er steckte. Er hob sein Glas und brachte insgeheim einen Toast auf Onkel Henry aus, Gott hab ihn selig.
    »Ausgezeichnet«, sagte Charlie. »Den nehmen wir.«
    Der Sommelier schürzte die Lippen und nickte in stillschweigendem Einverständnis, bevor er sich auf die Suche nach dem Wein begab.
    »Schau.« Charlie deutete auf das Getränk seiner Wahl. »Der Léoville Barton, Jahrgang '82. Ein Spitzenwein. Einen besseren gibt es nicht.«
    Max starrte auf die Stelle, an der Charlies Finger angehalten hatte. »Ist das dein Ernst? Dreihundertachtzig Pfund?«
    »Das ist heutzutage ein Klacks. Unlängst speisten ein halbes Dutzend Börsenspekulanten - ich glaube, junge Banker - in einem Restaurant in St. James und sind völlig durchgeknallt. Sie haben vierundvierzigtausend Pfund auf den Tisch des Hauses geblättert, für sechs Flaschen Wein. Der Inhaber des Lokals war so angetan, dass er ihnen das Abendessen spendierte. Du hast die Geschichte bestimmt gelesen.«
    Der Sommelier kehrte zurück, und Charlie verstummte, um sich die feierliche Öffnungszeremonie nicht entgehen zu lassen. Die Flasche wurde zur Begutachtung präsentiert, wie ein gut geratener Sprössling von seinem stolzen Vater. Die Metallkapsel wurde entfernt, der lange aristokratische Korken gezogen und beschnüffelt und die rubinrote Flüssigkeit mit geübter Sorgfalt dekantiert, wobei ein wenig mehr als ein Mund voll in ein Glas abgezweigt wurde.
    Jetzt kam Charlies großer Auftritt. »Es gibt fünf Schritte, die den entscheidenden Unterschied zwischen der Kunst des Trinkens und dem Akt des bloßen Schluckens ausmachen«, sagte er. Der Sommelier sah ihn mit der nachsichtigen Geduld eines Menschen an, der weiß, dass ihm ein beträchtliches Trinkgeld sicher ist. »Der erste Schritt ist die mentale Vorbereitung.« Er erwies dem Glas einige Minuten still die Ehre, bevor er es zum Licht erhob. »Der nächste ist eine Augenweide.« Er hielt das Glas schräg, so dass man die Farbschattierungen erkennen konnte - ein dunkles Rot auf dem Grund, das nach oben hin zu einem helleren Rotbraun verblasste und am Rand eine schwache bräunliche Färbung aufwies. »Und jetzt kommt die Nase auf ihre Kosten.« Er ließ den Wein sanft kreisen, damit er sich an der Luft entfalten konnte, bevor er seine Nase in das Glas versenkte und tief inhalierte. »Ah«, stöhnte er mit geschlossenen Augen, während sich langsam ein seliges Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete. »Ah.«
    Max kam sich wie ein Voyeur vor, der einem Menschen bei einer zutiefst persönlichen Verrichtung nachspioniert. In den langen Jahren ihrer Freundschaft hatte ihn die Leidenschaft, mit der Charlie seine wechselnden Hobbies in Angriff nahm,
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