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Ein Gott der keiner war (German Edition)

Ein Gott der keiner war (German Edition)

Titel: Ein Gott der keiner war (German Edition)
Autoren: André Gide , Arthur Koestler , Ignazio Silone
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zu vergessen, daß die geschmeidige Anpassung an eine degenerierte Gesellschaft degenerierte Individuen erzeugt. Und der Sozialreformer vergißt zu leicht, daß Haß, selbst auf das wirklich Hassenswerte, nicht zu der Nächstenliebe und Gerechtigkeit führen kann, auf denen allein eine utopische Gesellschaft beruhen kann.
    Infolgedessen spiegelt die Meinung des Soziologen wie die des Psychologen lediglich eine Halbwahrheit wider. Zwar läßt die Geschichte der meisten Revolutionäre und Reformatoren einen neurotischen Konflikt mit der Familie oder der Gesellschaft erkennen, doch beweist das nur, um mit Marx zu sprechen, daß eine zum Untergang bestimmte Gesellschaft ihre eigenen morbiden Totengräber hervorbringt. Es läßt sich ebensowenig bestreiten, daß die einzige ehrenhafte Haltung gegenüber einem empörenden Unrecht darin besteht, sich dagegen aufzulehnen und die Introspektionen auf bessere Zeiten zu verschieben. Wenn wir aber die Geschichte überblicken und die großen Ziele, in deren Namen Revolutionen begonnen wurden, mit dem jämmerlichen Ende vergleichen, das ihnen beschieden war, müssen wir immer wieder feststellen, daß eine korrupte Gesellschaft auch ihre eigene revolutionäre Brut korrumpiert.
    Setzt man die beiden Halbwahrheiten des Soziologen und des Psychologen zusammen, so darf man folgern, daß, wenn einerseits Überempfindlichkeit gegenüber sozialem Unrecht und krankhaftes Verlangen nach einer Utopie Anzeichen für eine neurotische Fehlanpassung sind, andererseits die Gesellschaft ein Stadium der Dekadenz erreichen kann, in dem der neurotische Rebell dem Himmel wohlgefälliger ist als der gesunde Geschäftsmann, der den Befehl gibt, Schweine vor den Augen hungernder Menschen zu ertränken. Und so war es um unsere Zivilisation bestellt, als ich mich im Dezember 1931, im Alter von 26 Jahren, der Kommunistischen Partei Deutschlands anschloß.
     
     
    Meine Entwicklung zum Revolutionär
     
    Ich wurde bekehrt, weil ich reif dafür war und weil ich in einer sich auflösenden Gesellschaft lebte, die verzweifelt nach einem Glauben verlangte. Aber der Tag, an dem mir mein Parteibuch überreicht wurde, war lediglich Höhepunkt einer Entwicklung, die begonnen hatte, bevor mir etwas von den ertränkten Schweinen oder von Marx und Lenin zu Ohren gekommen war. Die Wurzeln dieser Entwicklung reichen zurück bis in die Kindheit.
    Ich wurde 1905 in Budapest geboren, wo wir bis zu unserer Übersiedlung nach Wien im Jahre 1919 lebten. Bis zum ersten Weltkrieg führten wir das durchschnittliche Leben einer durchschnittlichen europäischen Mittelstandsfamilie. Mein Vater war der ungarische Vertreter einiger alter englischer und deutscher Textilfirmen. Wie so viele andere Existenzen nahm auch seine im September 1914 ein jähes Ende, und mein Vater sollte nie wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. Er ließ sich auf eine Reihe gewagter Unternehmen ein, die um so phantastischer wurden, je mehr er in der veränderten Welt sein Selbstvertrauen verlor. Er eröffnete eine Fabrik für radioaktive Seife, finanzierte eine Reihe von närrischen Erfindungen, wie Dauerglühbirnen, selbsttätige Bettwärmer und dergleichen, und verlor schließlich den Rest seines Vermögens in der österreichischen Inflation der frühen zwanziger Jahre. Als ich 21 Jahre war, verließ ich mein Elternhaus und wurde mit diesem Tage zum einzigen finanziellen Rückhalt für meine Eltern.
    Mit neun Jahren, als unser Mittelstandsidyll zusammenbrach, wurde ich plötzlich der wirtschaftlichen Tatsachen des Lebens bewußt. Als einziges Kind wurde ich zwar auch weiterhin von meinen Eltern verwöhnt; da ich aber ihre Geldschwierigkeiten erriet und für meinen Vater, der von einer etwas kindlichen Großzügigkeit war, Mitleid empfand, beschlich mich immer ein Gefühl der Schuld, wenn meine Eltern mir Bücher oder Spielzeug kauften. Auch in späteren Jahren empfand ich das gleiche, als jede Ausgabe für mich selbst einen Abstrich von der Geldsumme bedeutete, die ich nach Hause schicken konnte. Gleichzeitig entwickelte sich in mir eine starke Antipathie gegen die ostentativ Reichen; doch nicht etwa deswegen, weil sie sich alles leisten konnten (der Neid spielt eine weit geringere Rolle bei sozialen Konflikten, als im allgemeinen angenommen wird), sondern weil sie das ohne jegliches Schuldgefühl taten. So projizierte ich meine persönlichen Probleme auf die Gesellschaftsstruktur als Ganzes.
    Gewiß war das ein etwas umwegiger Pfad zu einem sozialen
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