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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge
Autoren: Stephen King
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Beifall spendeten. Das Ganze endete mit einer Diashow, die Martha auf ihrer alten Harley Tri-Glide zeigte, während George Thorogood «Ride On, Josephine» sang.
    Das war ein seltener Moment für Evers, eine glückliche Trennung. Über die dumme Affäre hinaus hatte er Martha immer gemocht, ihr lautes Lachen und wie sie beim Tippen, den Bleistift hinterm Ohr, vor sich hin summte. Was er in seiner Rede sagte – dass sie nicht nur seine Assistentin, sondern auch eine teure, getreue Freundin sei –, stimmte. Obwohl er schon eine Ewigkeit nicht mehr mit ihr gesprochen hatte, war sie von allen Leuten, mit denen er gearbeitet hatte, die Einzige, die ihm fehlte. Von der einsetzenden Wirkung des Ambien eindösend, fragte er sich benebelt, ob sie wohl noch am Leben war oder ob er morgen das Spiel einschalten und sie in dem ärmellosen gelben Sommerkleid mit den Gänseblümchen, das ihm so gut gefiel, hinter der Home Plate entdecken würde.
    Er stand um acht auf – eine ganze Stunde später als sonst – und nahm an der Haustür die Zeitung von der Matte. Er blätterte die Sportseite auf und sah, dass die Rays an diesem Tag spielfrei hatten. Das war schon in Ordnung; es gab ja noch
CSI
. Evers duschte, aß ein gesundes Frühstück, bei dem Weizenkeime eine Hauptrolle spielten, und setzte sich dann hin, um den jungen Dr. Young im Internet ausfindig zu machen. Als dieses Wunder des einundzwanzigsten Jahrhunderts versagte (oder vielleicht machte er es auch bloß nicht richtig; Ellie war immer das Computergenie gewesen), griff er zum Telefon. Dem Archiv des Shrewsbury
Herald
zufolge war das zahnärztliche Schreckgespenst aus Evers’ Kindheit 1978 gestorben. Erstaunlicherweise war er erst neunundfünfzig gewesen, fast zehn Jahre jünger als Evers jetzt. Evers dachte über das Unfassbare nach: War sein Leben vom Krieg, von den Luckies, seiner Arbeit als Zahnarzt oder von allem zusammen verkürzt worden?
    In seinem Nachruf stand nichts Außergewöhnliches, nur die üblichen Hinterbliebenen- und Beerdigungsinformationen. Evers hatte absolut nichts mit dem Ableben dieses versoffenen alten Metzgers zu tun gehabt, er hatte nur das Pech gehabt, sein Opfer zu sein. Derart entlastet, trank er an jenem Abend ein, zwei zusätzliche Gläschen auf Dr. Young. Er ließ sich etwas zu essen bringen, aber es dauerte eine Ewigkeit, und das Ganze traf erst ein, als er schon einen in der Krone hatte. Wie sich herausstellte, hatte er die
CSI
-Folge schon gesehen, und die Sitcoms waren alle bescheuert. Wo war Bob Newhart, wenn man ihn mal brauchte? Evers putzte sich die Zähne, nahm zwei von Ellies Ambien und stand dann schwankend vor dem Badezimmerspiegel, seine Augen ganz rot. «Gebt mir eine Leber, die lang genug ist», sagte er, «dann hebe ich die verdammte Welt aus den Angeln.»
    Er schlief wieder lange, kam mit Instantkaffee und Haferbrei wieder zu sich und freute sich, zu sehen, dass die Sox für eine große Wochenendserie kamen. Er feierte das Auftaktspiel mit Steak und stellte den Videorecorder ein, um den bösen Geist einzufangen, den seine Vergangenheit vielleicht ausspeien würde. Wenn es dazu käme, würde er diesmal vorbereitet sein.
    Und es kam tatsächlich dazu, im siebten Inning eines unentschieden stehenden Spiels, in einer wichtigen Situation an der Home Plate. Er hätte es verpasst, wenn er das Geschirr gespült hätte, doch inzwischen saß er gespannt auf der Sofakante, total in das Spiel vertieft und auf jeden Pitch konzentriert. Longoria schlug einen Double in die Lücke zwischen linkem und mittlerem Außenfeld, und Upton versuchte von der ersten Base aus zu punkten. Der Wurf war schneller als er, flog aber zu weit, die Linie der ersten Base entlang. Als Kelly Shoppach, der Catcher der Sox, mit einem Sweep Tag auf die Home Plate zustürzte, erhob sich direkt hinter dem Fangzaun ein spindeldürrer, sommersprossiger Junge von seinem Platz, der nicht älter als neun war.
    Er hatte einen Haarschnitt, der früher Dutchboy genannt wurde oder, falls man den jeweiligen Jungen in der Schule verhöhnen wollte, Suppentopf. «He, Soup!», riefen sie immer, wenn sie im Sportunterricht hinter ihm herjagten, sich auf ihn stürzten und jedes Spiel in einen Rugbykampf verwandelten. «He, Soupy, Soup, Soupy!»
    Er hieß Lester Embree, und hier im schattigen Trop trug er dasselbe abgetragene rot-blau gestreifte Hemd und dieselbe ausgebleichte, an den Knien geflickte Tuffskins, die er im Frühling 1954 ständig anzuhaben schien. Er war weiß,
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