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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge
Autoren: Stephen King
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Schiedsrichters, und als Price einen Backdoor Curve einstreute, zoomte die Kamera bei der Wiederholung auf die Met-Life-Schlagzone und zeigte das idiotische Grinsen des Jungen in Vergrößerung, während er in Zeitlupe winkte. Zwei Reihen hinter ihm saß ganz allein in seinem weißen Arztkittel, das dünne, pomadisierte Haar angeklatscht, stabil und unerschütterlich wie ein Tiki-Gott, Evers’ früherer Zahnarzt aus Shrewsbury, Dr. Young.
    Der junge Dr. Young hatte ihn seine Mutter genannt, denn auch als Evers noch ein Kind war, war er schon alt gewesen. Er war Marinesoldat im Pazifik gewesen und hatte auf Tarawa einen Teil seines Beines und seine gesamte Hoffnung verloren. Den Rest seines Lebens rächte er sich nicht an den Japanern, sondern an den Kindern von Shrewsbury, in deren Zahnschmelz er mit der gnadenlosen Spitze seines Edelstahl-Hakens Schwachstellen fand und denen er Spritzen in den Gaumen jagte.
    Evers hörte auf zu kauen und beugte sich vor, um sicherzugehen. Das fettige, angeklatschte Haar und die Mount-Rushmore-Stirn, die Bifokalbrille mit den Aschenbechergläsern und die schmalen Lippen, die weiß wurden, wenn er einem mit dem Bohrer auf den Pelz rückte – ja, er war es, und keinen Tag älter als damals, als Evers ihn vor über fünfzig Jahren zum letzten Mal gesehen hatte.
    Das konnte nicht sein. Er wäre inzwischen mindestens neunzig. Doch in dem Humidor, der Florida war, wimmelte es von Männern in seinem Alter, viele von ihnen unter dem Leinenhemd und ihrer Sonnenbräune so gut erhalten wie Mumien.
    Nein
, dachte Evers,
er ist Raucher gewesen.
Noch etwas, das Evers an ihm nicht ausstehen konnte, der schale Geruch seines Atems und seiner Kleidung, wenn er über ihm auftauchte und die richtige Position suchte. Die rote Schachtel passte in die Tasche seines Kittels – Lucky Strikes, filterlos, die echten Sargnägel.
L.S.M.F.T.
, so lautete der alte Slogan:
Lucky Strike Means Fine Tobacco
. Vielleicht war es ein jüngerer Bruder oder ein Sohn. Ein noch jüngerer Dr. Young.
    Mit einem Fastball, den Price am Batter vorbeiwarf, ging das Inning zu Ende, und der eingeblendete Werbespot holte Evers zurück in die Gegenwart. Sein Schweinekotelett war so zäh wie der Handschuh eines Catchers. Er warf es in den Müll und nahm sich ein Bier. Der erste kühle Schluck machte ihn nüchtern. Es war ausgeschlossen, dass es sein Dr. Young war, mit den vom Kater zittrigen Händen und dem deutlichen Gin-Geruch in seinem Zigarettenatem. Heutzutage würde man sein Leiden PTBS nennen, aber für ein Kind, das seinen Instrumenten ausgeliefert war, spielte das keine Rolle. Evers hatte ihn verachtet, hatte sich bestimmt irgendwann gewünscht, dass er, wenn nicht tot, so doch nicht mehr da wäre.
    Als die Rays am Schlag waren, winkte der Jugendliche wieder, doch die Reihen hinter ihm waren leer. Evers hielt Ausschau und rechnete damit, dass Dr. Young mit einem Bier und einem Hot Dog zurückkehren würde, doch während die Innings verstrichen und Price immer mehr Strikeouts gelangen, blieb der Platz leer. Ein Stück weiter winkte jetzt eine Frau in glitzerndem Top ihren Leuten zu Hause.
    Er wünschte, er könnte das Ganze Ellie erzählen oder seine Mutter anrufen und fragen, was aus dem jungen Dr. Young geworden sei, doch wie bei so vielen Alltagsdingen gab es niemanden, dem er davon berichten konnte. Höchstwahrscheinlich war der Mann bloß einer dieser alten Knacker, die nichts Besseres zu tun hatten, als die ihnen noch verbleibenden Abende damit zu vergeuden, dass sie sich Baseball anschauten, nur im Stadion statt zu Hause.
    Spät in der Nacht, gegen drei, begriff Evers mühelos, warum sich Sträflinge ausgerechnet am meisten vor Einzelhaft fürchteten. Prügel hörten irgendwann auf, doch ein Gedanke konnte ewig weitergehen und sich immer wieder von der Schlaflosigkeit nähren. Warum gerade Dr. Young, an den er jahrelang nicht mehr gedacht hatte? War das ein Zeichen? Ein Omen? Oder verlor er – wie er es nach Ellies Tod befürchtet hatte – allmählich den Bezug zur Realität?
    Um diese Zweifel zu widerlegen, machte er den ganzen nächsten Tag in der Stadt Besorgungen, plauderte mit dem Angestellten im Postamt und der Frau an der Ausleihe der Bücherei – nur Smalltalk, aber dennoch eine Verbindung, etwas, worauf man aufbauen konnte. Wie jeden Sommer waren Pat und seine Familie bei Sues Eltern auf Cape Cod. Trotzdem sprach Evers eine Nachricht auf ihren Anrufbeantworter. Nach ihrer Rückkehr würde er sie wirklich
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