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Ein Gesicht in der Menge

Ein Gesicht in der Menge

Titel: Ein Gesicht in der Menge
Autoren: Stephen King
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gern mal wieder treffen. Er würde sie in ein Restaurant ihrer Wahl zum Essen einladen oder vielleicht auch zu einem Baseballspiel.
    An jenem Abend bereitete er sein Essen zu, als wäre nichts vorgefallen, doch jetzt achtete er auf die Uhrzeit und beeilte sich mit dem Grillhähnchen, damit er den ersten Pitch nicht verpasste. Die Rays spielten wieder gegen die Mariners, und auch diesmal waren kaum Zuschauer da, nur die oberen Ränge ein Meer von Blau. Evers setzte sich vor den Fernseher, ohne darauf zu achten, wo der Pitch hinging, und konzentrierte sich stattdessen auf die dritte Reihe links vom Schiedsrichter. Als wollte es seine Frage mit einem höhnischen Johlen beantworten, fläzte sich das Mannschaftsmaskottchen Raymond, ein Wesen mit blauem Fell, wie es in der Natur nirgends vorkommt, über die Sitze und schüttelte hinter Ichiros Rücken die Faust.
    «Dir fällt die Decke auf den Kopf», sagte Evers. «Das ist alles.»
    Der Star der Mariners, Felix Hernandez, war am Wurf, und King Felix warf gut. Das Spiel verging schnell. Als Evers sein allabendliches Bier öffnete, lief schon das sechste Inning, und die Mariners lagen mit ein paar Runs in Führung. Und in diesem Moment, gerade als King Felix Ben Zobrist austrickste, sah Evers in der dritten Reihe, im selben Nadelstreifenanzug, in dem er beerdigt worden war, seinen alten Geschäftspartner Leonard Wheeler.
    Leonard Wheeler – immer Leonard, nie Lennie – aß gerade einen Hot Dog und spülte ihn mit einem von den ESPN -SportsCenter-Klugscheißern sogenannten «Erwachsenengetränk» runter. Einen Augenblick zu entsetzt, um es zu leugnen, brachte Evers nicht die Empörung auf, die allein der Gedanke an Wheeler immer noch bei ihm auslösen konnte. «Du Kontrollfreak!», rief er und ließ sein eigenes Erwachsenengetränk fallen, das er gerade an die Lippen geführt hatte. Die Dose fiel auf das Tablett, das auf seinem Schoß stand, und alles kippte auf den Boden zwischen seinen Füßen, wo das Hähnchen, der Tüten-Kartoffelbrei und die grünen Bohnen von Birds Eye (ebenfalls von einer Farbe, die in der Natur nicht vorkommt) schließlich in einer schäumenden Bierpfütze auf dem Teppich lagen.
    Evers bemerkte es nicht, sondern starrte nur seinen neuen Fernseher an, der so topmodern war, dass Evers manchmal das Gefühl hatte, er bräuchte bloß das Bein anzuheben und den Kopf einzuziehen und könnte direkt ins Bild steigen. Es war eindeutig Wheeler: dieselbe Brille mit Goldfassung, dasselbe vorstehende Kinn und dieselben seltsam fleischigen Lippen, derselbe prächtige schneeweiße Haarschopf, durch den er wie der Star einer Seifenoper aussah – der ältere Hauptdarsteller, der einen begnadeten Arzt oder einen Industriemagnaten spielt, dem von seiner verabscheuenswerten Vorzeigefrau Hörner aufgesetzt werden. Auch die riesige Ansteckflagge an seinem Revers war unverkennbar. Wie ein inkompetenter Kongressabgeordneter hatte er das verdammte Ding getragen. Ellie witzelte mal, dass Lennie (insgeheim hatten sie ihn stets so genannt) es vor dem Schlafengehen bestimmt unter sein Kopfkissen legte.
    Dann überfluteten Zweifel seinen anfänglichen Schock wie weiße Blutkörperchen, die in eine frische Schnittwunde spülen. Evers schloss die Augen, zählte bis fünf und riss sie weit auf, in der Überzeugung, jemanden, der Wheeler ähnlich sah, oder – was vielleicht noch schlimmer wäre – gar niemanden zu Gesicht zu bekommen.
    Inzwischen war ein anderes Bild zu sehen. Statt einen neuen Batter zu zeigen, konzentrierte sich die Kamera auf den linken Außenfeldspieler der Mariners, der ein seltsames Tänzchen aufführte.
    «Das ist ja mal was Neues», sagte ein Sprecher der Rays. «Was zum Teufel hat Wells bloß vor, DeWayne?»
    «Kleine Crunk-Nummer, schätze ich», erwiderte DeWayne Staats, und beide kicherten.
    Jetzt reicht’s aber mit diesem geistsprühenden Schlagabtausch
, dachte Evers. Er scharrte mit den Füßen und schaffte es tatsächlich, auf die biergetränkte Hähnchenbrust zu treten.
Zeigt endlich wieder die Home Plate.
    Als hätte ihn der Sendeleiter in seinem apparatestrotzenden Übertragungswagen gehört, sprang das Bild zurück, jedoch nur für einen Augenblick. Luke Scott schlug einen Ball auf den Second Baseman der Mariners, und dann war das Tropicana Field plötzlich verschwunden, und Evers sah sich der Aflac-Ente gegenüber, die ein Leck in einem Ruderboot zuhielt und damit für Versicherungen warb.
    Als Evers halb aufgestanden war, gaben seine Knie
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