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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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ja sogar von Kaiserschnitt die Rede. Endlich ist das Ergebnis der Vereinigung zweier Sportskanonen da, liegt es in der Wiege. Im Gegensatz zu dem, was siesich erträumt haben, ist das Kind ein Kümmerling, fast wäre das Baby bei der Geburt gestorben.

    Dank der guten Behandlung durch die Ärzte und der Liebe meiner Mutter habe ich überlebt. Auch mein Vater hat, das möchte ich zumindest glauben, seine Enttäuschung überwunden und mich geliebt, hat in der Pflege, in der Sorge um mich und in seiner Beschützerrolle Nahrung für seine Gefühle gefunden. Doch sein erster Blick hat Spuren in mir hinterlassen, und den Schimmer von Bitterkeit habe ich in seinen Augen immer wieder entdeckt.

III

Zu Beginn jedes neuen Schuljahrs setzte ich mir dasselbe Ziel: die Aufmerksamkeit meiner Lehrer erringen, ihr Lieblingsschüler werden, eine der drei Stufen des Podests erklimmen. Es war der einzige Wettkampf, bei dem ich den Sieg beanspruchen konnte. Das war meine Domäne, den Rest der Welt hatte ich meinem Bruder überlassen, nur er konnte ihn erobern.

    Der Duft neuer Bücher machte mich trunken, und wenn ich meine Nase in meinen Schulranzen steckte, berauschte ich mich an seinem Ledergeruch und am Mandelduft unseres Klebstoffs. In den Schubladen meines Schreibtischs stapelten sich die Hefte. Ich habe sie nie wieder durchgelesen. Die Kraft, die mir bei körperlichen Betätigungen fehlte, trieb mich zu Höchstleistungen, wenn ich mit meinem Füller seitenlang selbsterfundene Geschichten niederschrieb. Manchmal handelten sie von mir und meiner Umgebung, Familiengeschichten, Berichte über meine Eltern, manchmal verirrte ich mich in abscheuliche Erzählungen, durch die sich Folter, Tod und Wiedersehensfreuden zogen, oder Gladiatorenkämpfe, unter Tränen verfaßte Schilderungen.

    Die Jahre vergingen, und mühelos nahm ich eine Hürde nach der anderen. In der Schule wie zu Hause war ich ein Musterknabe. Meine Mutter nahm mich jede Woche mit in den Louvre, und mein Vater ließ mich an seiner leidenschaftlichen Liebe zu Paris teilhaben. Zusammen wanderten wir durch die Stadt auf der Suche nachden Orten, die die Touristen noch nicht entdeckt hatten. Meine Welt beschränkte sich auf unser Trio, sonntags trafen meine Eltern befreundete Sportler, spielten mit ihnen auf Volleyball- oder Tennisturnieren. Ich saß mit Füller und Heft auf dem Rasen und verschlang diese springenden und vor Schweiß in der Sonne glänzenden Körper mit den Augen, erweiterte meine Bildergalerie. Bei den Spielen der anderen Kinder, die schon in die Fußstapfen ihrer Eltern traten, machte ich nie mit, das überließ ich meinem Bruder, sollte er sich mit ihnen um den Ball streiten, sollte er auf den von den Erwachsenen freigegebenen Aschenbahnen und Tennisplätzen triumphieren.

Jeden Dienstag klingelte Joseph, mein Großvater väterlicherseits, bei uns. In seinem Binsenkorb hatte er immer ein Glas Malossol-Gurken oder eine Schachtel Rachat-Lokum. Manchmal brachte er mir Studentenfutter mit, kleine Papiertüten, gefüllt mit getrocknetem Obst und Mandeln, in denen ich ein Bilderrätsel fand: Es war ein Motiv aus einem Bilderbogen, und man mußte einen Fuchs in einem Gestrüpp von Zweigen oder das Gesicht einer Bäuerin in den Rissen eines Gemäuers ausfindig machen. Mit fast schon erloschener Stimme erzählte er mir seine sepiabraunen Erinnerungen. Wenn es um das Paris der Belle Epoque ging, war er nicht zu bremsen, doch über seine Jugend verlor er kein Wort. Er erzählte nie, warum er sein Heimatland verlassen hatte, er hatte mit jenen Jahren abgeschlossen und ließ die Erinnerung an seine Familie, von der er angeblich nie wieder etwas gehört hatte, in einem Vorort von Bukarest zurück.
    Sonntag abends versammelte sich die Familie zum Essen bei meinem Onkel Georges und seiner Frau Esther. Mein Onkel meinte, daß nur die kontemplative Besinnung zähle, alles Tun sei vergebens, und hatte sich ins Schweigen geflüchtet. Meine Tante, eine kleine Rothaarige mit breitem Mund und grünen Augen, hatte die Angewohnheit beibehalten, ihren theatralischen Blick noch mit einem kräftigen schwarzen Lidstrich zu betonen. Sie redete wie ein Buch und unterhielt die ganze Tischgesellschaft. Zu ihrer Glanzzeit muß sie Sarah Bernhardt ähnlich gewesen sein, und aus jener Zeit hatte sie ihren Sinn fürs Theatralische behalten. Wenn sich anMarkttagen die Menschen zu dicht um sie drängten, fiel sie in Ohnmacht. Da sie schon vor langer Zeit jede Hoffnung auf ein mögliches
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