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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr
Autoren: Jojo Moyes
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vorbei zur Haustür. Und nach einer Sekunde folgte mir meine Schwester.
    Dad zog die Mundwinkel herunter, als müsste er sich beherrschen, um nicht alles Mögliche auszusprechen, was ihm gerade durch den Kopf schoss. Dann drehte er sich zu Mum um und legte ihr die Hand auf die Schulter. Ihr Blick suchte seinen, und es war, als wüsste sie schon, was er tun würde.
    Und dann warf er Treena die Autoschlüssel zu. Sie fing sie mit einer Hand.
    «Hier», sagte er. «Und geht durch die Hintertür und durch Mrs. Dohertys Garten, und dann nehmt ihr den Transporter. Dadrin sehen sie euch nicht. Wenn ihr gleich losfahrt und der Verkehr nicht zu schlimm ist, schafft ihr es vielleicht gerade noch.»

    «Hast du eine Ahnung, wo das alles hinführt?», fragte Katrina.
    Sie warf mir einen Seitenblick zu, während wir über die Autobahn rasten.
    «Nein.»
    Ich konnte sie nicht lange anschauen – ich kramte in meiner Handtasche und überlegte, was ich vergessen haben könnte. Ich hörte wieder Mrs. Traynors Stimme am Telefon. Louisa? Bitte, würden Sie kommen? Ich weiß, dass wir unsere Schwierigkeiten miteinander hatten, aber bitte … es ist lebenswichtig, dass Sie jetzt kommen.
    «Shit. Ich habe Mum noch nie so erlebt», fuhr Treena fort.
    Pass, Geldbeutel, Haustürschlüssel. Haustürschlüssel? Wozu? Ich hatte kein Zuhause mehr.
    Katrina sah wieder zu mir herüber. «Weißt du, jetzt ist sie zwar völlig irre, aber sie steht unter Schock. Du wirst sehen, hinterher ist alles wieder gut. Weißt du noch, als ich nach Hause kam und sagte, dass ich schwanger bin, dachte ich, sie redet nie mehr ein Wort mit mir. Aber es hat nur … wie lange war das noch … zwei Tage gedauert, bis sie wieder normal war.»
    Ich hörte ihr gar nicht richtig zu. Ich konnte mich auf nichts konzentrieren. Ich glaubte, jedes einzelne meiner Nervenenden zu spüren, bebend vor Erwartung. Ich würde Will sehen. Ganz gleich, was sonst noch war, darauf konnte ich mich verlassen. Ich spürte beinahe, wie die Entfernung zwischen uns schrumpfte, als wären wir zwei Enden desselben Gummibandes.
    «Treen?»
    «Ja?»
    Ich schluckte. «Sorg dafür, dass ich diesen Flug nicht verpasse.»
    Meine Schwester ist alles andere als unentschlossen. Wir drängelten uns vor, jagten über die Standspur, überschritten das Tempolimit, suchten im Radio nach Verkehrsnachrichten, und endlich kam der Flughafen in Sicht. Sie hielt mit kreischenden Bremsen vor dem Terminal, und ich war aus dem Auto, bevor ich sie hörte.
    «Hey! Lou!»
    «Sorry.» Ich drehte mich um und rannte die paar Schritte um das Auto zu ihr.
    Sie umarmte mich ganz fest. «Du machst genau das Richtige», sagte sie und sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. «Und jetzt mach, dass du wegkommst. Wenn du den verdammten Flug verpasst, nachdem ich mir sechs Punkte eingehandelt habe, rede ich nie wieder ein Wort mit dir.»
    Ich drehte mich nicht mehr um. Ich rannte die ganze Strecke bis zum Swiss-Air-Schalter und brauchte drei Versuche, um meinen Namen deutlich genug auszusprechen, damit sie mir mein Ticket gaben.

    Kurz vor Mitternacht kam ich in Zürich an. Angesichts der Uhrzeit hatte mir Mrs. Traynor wie versprochen ein Hotelzimmer am Flughafen gebucht. Am nächsten Morgen um neun würde sie mir einen Wagen schicken, um mich abzuholen. Ich hatte geglaubt, nicht schlafen zu können, aber ich schlief – einen merkwürdigen, schweren und zerrissenen Schlaf –, wachte am nächsten Morgen auf und hatte keine Ahnung, wo ich war.
    Ich starrte erschöpft durch das unbekannte Zimmer, auf die schweren, burgunderroten Vorhänge, die das Licht draußen halten sollten, auf den großen Flatscreen-Fernseher und auf meine kleine Reisetasche, die ich nicht ausgepackt hatte. Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich fest, dass es kurz nach sieben war. Und als mir wieder klar wurde, wo ich war, krampfte sich mein Magen vor Angst zusammen.
    Ich stieg aus dem Bett und war gerade noch rechtzeitig in dem kleinen Badezimmer, bevor ich mich übergeben musste. Ich sank auf dem Boden zusammen, das Haar klebte mir an der Stirn, meine Wange lag am kühlen Porzellan der Toilettenschüssel. Ich hörte die Stimme meiner Mutter, ihren Einspruch, und spürte, wie dunkle Furcht in mir aufstieg. Ich war dieser Situation nicht gewachsen. Ich wollte nicht wieder versagen. Ich wollte Will nicht beim Sterben zusehen. Ich stöhnte laut auf, und als ich mich hochrappelte, wurde mir wieder schlecht.
    Ich konnte nichts essen. Ich bekam eine
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