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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde
Autoren: T.C. Boyle
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kurvige zweispurige Landstraße durch ein weites Forstgebiet, dünnbesiedelt, kaum befahren. Heute krieche ich mit Tempo fünfundzwanzig in einer Schlange von Autos und Lastwagen, die sich in die Hügelflanke bohren, so weit ich sehen kann, und ich atme auch keine kühle Bergluft – windgepeitschter Auspuffqualm, mehr gibt’s nicht. Wo vor fünfunddreißig Jahren nur Steilhänge und Kuppen aus Granit aufragten, gibt es heute Beton und Glas und künstliches Holz, Apartments, die sich übereinandertürmen wie die Höhlenwohnungen der Anasazi, Augen aus Glas, Zähne aus Stufen und Geländern, die pochenden Herzen von Klimaanlagen, Tausende von ihnen, und kein Mensch in Sicht. Beklage ich mich? Nein. Dazu hab ich kein Recht.
    Andrea schläft weiter, ihr altes Doppelkinn vibriert in einer Serie von leisen, rasselnden Schnarchern. Petunia stinkt still vor sich hin und leckt gerade eine Pfütze ihrer eigenen Kotze auf, in der Lücke zwischen drei Kisten mit edlem Wein und einer Kühlbox, die mit uraltem Rindfleisch randvoll gestopft ist. Ich flüstere vor mich hin, plappere sinnloses Zeug, eine Art Litanei, die ich mir im Gefängnis ausgedacht habe, um kundzutun, was wir allein auf unserem Kontinent eingebüßt haben – Knochenschwanzdöbel, Okaloosa-Flußbarsch, Stahlblauer Killifisch, Fleckschwänziger Taubleguan, Haubencaracara, Pfeifregenpfeifer, Florida-Weißwedelhirsch, Kitfuchs, Appalachen-Flußperlmuschel –, aber ich kann es nicht durchhalten. Es deprimiert mich nur. Vor uns ragt der Gipfel auf. Freude. Erlösung. Der Quell eines neuen Lebens. Ich schalte das Radio an, hoffe auf etwas Ordentliches, auf Ride Your Pony vielleicht, aber ich kriege nur einen sehr zornigen Ansager rein, er spricht so etwas wie Farsi – möglicherweise auch Finnisch –, und einen Sender aus Fresno, der sich vollkommen dem Techno-Country verschrieben hat. Na schön. Ich schalte das Radio wieder aus und murmle erneut vor mich hin – nur so zur Unterhaltung, versteht ihr?
    In etwa tausendfünfhundert Metern Höhe dünnt der Verkehr allmählich aus; das einst im Tiefschlaf dahindämmernde Camp Orson ist mittlerweile zu Orsonville geworden, ein boomender Ort am Berghang voller Wohnwagen, Mini-Einkaufszentren, Apartmenthäuser, Videoläden und Pizzaküchen (Probieren Sie unser Sonderangebot: Welsfilet/Peperoni!) . Ich richte meine Jungaltenaugen fest auf die Straße, umfahre LKW-Monster, Strandbuggies und aufgebockte Jeeps, und dann sind wir endlich auf dem letzten Straßenstück nach Big Timber. Die Verhältnisse sind hier beträchtlich rauher, alle hundert Meter ist die Piste übel ausgewaschen, zu beiden Seiten ragen die gekappten Stämme umgestürzter Bäume wie Zahnstümpfe auf, die Steinschlagschilder gelten unbegrenzt. Aber der Olfputt – einhundertzwölftausend Dollar von Macs Vermögen in konkreter Form – brummt auf seinen Straßenkämpfer-Gürtelreifen unverwüstlich dahin. Jetzt sind nur noch zwei Wagen vor uns, und die biegen in Upper Orsonville ab – ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, weiß ich nicht. Ich habe den vagen Verdacht, daß es ein schlechtes ist – niemand will weiter hinauffahren, weil die Straße so voller Löcher und Buckel ist und weil’s da oben sowieso kein dort gibt, wenn man erst mal hinkommt –, aber es ist zu spät zum Umkehren. Das Erfreuliche ist, daß es auf circa siebenunddreißig Grad abgekühlt hat.
    Eine halbe Stunde später erwacht Andrea mit einem Schnarcher, gerade als wir in Big Timber einrollen, wo auch immer noch die Big Timber Bar and Mountain Top Lodge steht – sicher, sie ist total verfallen und bräuchte dringend einen Anstrich und ein neues Dach vielleicht, und eine tote Weißborkenkiefer (Pinus albicaulis) der Fünfzigtonnenklasse lehnt im Fünfundvierziggradwinkel vor den Restaurantfenstern, aber sie ist noch da und hat sich dem Anschein nach nicht allzusehr verändert, seit wir damals vor vielen Jahren als die Drinkwaters durch die Tür traten. Was sich aber verändert hat, und darauf hätten uns keine Bilder in den Abendnachrichten vorbereiten können, das ist der Wald. Er ist weg. Oder nicht wirklich weg, sondern zu Boden gegangen – überall liegen Bäume über Bäumen, in der Mitte geknickt, am Fuß abgebrochen, entwurzelt und von der Gewalt der Stürme mehrere hundert Meter weit geschleudert. All die Kiefern – Zucker- und Gelbkiefer, Jeffrey- und Ponderosakiefer –, die Flußzedern, Redwoods, Espen und andere Bäume liegen herum wie Mikadostäbchen. Mount
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