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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde
Autoren: T.C. Boyle
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Bäume herumsitzen, man würde nicht mehr darauf reagieren. Denn jede Reaktion würde gegen sie verwendet werden – außer sie stellten das Holzgeschäft überhaupt ein und nähmen die Reparatur des Ökosystems in Angriff –, und das wußten sie. Sie wollten es aussitzen, das war der Plan. Je länger Sierra oben blieb, desto weniger würden sich die Leute dafür interessieren, sie hätte ihre Aktion bald satt und würde sich in einer letzten Pressekonferenz verabschieden, worauf die Firma den letzten Dollar aus dem Wald herausfällen könnte, ohne daß sie jemand daran hinderte.
    Inzwischen nahm Sierra allmählich diverse Kennzeichen einer wahnsinnigen Heiligen an: die Einsiedlerin in ihrer Zelle, die Märtyrerin, die nicht für eine gute Sache leidet, sondern allein um des Leidens willen. Sie wurde ätherischer, entrückter. Sie habe die Lehren von Lao-Tse und Gautama Buddha studiert, sagte sie mir. Sie war eins mit Artemis, eins mit den Eichhörnchen und den Meisen, ihren Gefährten. Es bestand kein Grund, auf die Erde hinabzusteigen, nicht damals und nie wieder. Es kümmerte sie nicht – oder sie bemerkte es gar nicht –, daß sie das Idol von Tausenden war, es war ihr egal, daß sie den Rekord für Baumbesetzung immer weiter ausdehnte, bis niemand hoffen konnte, ihn je wieder zu brechen, und auch über Coast Lumber sprach sie kaum noch. Gegen Ende, glaube ich, hatte sie vergessen, warum sie überhaupt auf diesem Baum lebte.
    Das Ende, genau – hier geht’s ja um das Ende dieser Geschichte.
    Kann ich euch das erzählen? Ich war dort – ihr Vater war dabei –, als es passierte. Ich war aus dem Haus in Tarzana ausgezogen, hatte Koboldkärpflinge und Stockenten – und meine Frau – sich selbst überlassen. Weshalb? Ich war peinlich berührt. Schämte mich. Ich hatte völlig falsch gelegen mit Andrea und Teo – es lief nichts zwischen ihnen, und an jenem ersten Wochenende, nachdem wir Sierra auf ihren Baum gebracht hatten, saßen sie mir beide an einem Tisch in einem Restaurant in Willits gegenüber, zogen lange Gesichter wie geschundene Heilige und klärten mich auf. (Erst später, lange nach meiner Trennung von Andrea, sollten sie mal eine Zeitlang zusammensein, wobei ich unwillkürlich denken muß, daß ich das ja geradezu in die Wege geleitet hatte.) Die Bewährungskommission gestattete mir, nach Eureka zu ziehen, wo ich einen Job gefunden hatte – nichts Besonderes, Verkäufer in einem Haushaltswarengeschäft, aber immerhin kam ich damit aus L.A. raus und konnte in der Nähe meiner Tochter sein. Ich packte den Jeep, während Andrea in der Arbeit war, und hinterließ einen Zettel. Ich weiß es nicht – wir haben nie darüber gesprochen –, aber ich glaube, sie muß erleichtert gewesen sein.
    Meine Wohnung war nicht viel größer als die Zelle, die ich mit Sandman geteilt hatte. Ein Zimmer mit Bett und Fernseher, eine Küche von der Größe der Kombüse in einer Zehnmeteryacht, Dusche und Toilette, dahinter ein Flecken Erde, in dem ein rostiger Eisensessel auf einem Betonsockel stand. Ich hätte mehr haben können – hätte jederzeit etwas von dem Geld abheben können, das in Earth Forever! investiert war, und die von General Electric wären nie darauf gekommen –, aber ich wollte gar nicht mehr. Ich wollte weniger, viel weniger. Ich wollte leben wie Thoreau.
    Meine wichtigster Zeitvertreib war Sierra. Viermal, fünfmal, ja sechsmal die Woche wanderte ich zu ihrem Baum hinaus und plauderte mit ihr, wenn sie nicht gerade mit Interviews oder ihrem Tagebuch beschäftigt war. Manchmal ließ sie sich im Sitzgurt herunter und schwebte dann über mir, ihre Fußsohlen waren so schwarz, als wären sie frisch geteert; sonst redeten wir auch über Handy miteinander, manchmal stundenlang, durchstreiften einen Nachmittag oder Abend lang Gesprächsthemen und Erinnerungen, als wäre es ein langer träger Traum, und ihre Stimme klang so innig in meinem Ohr, so nah, daß es mir fast schien, als wäre sie wieder zur Erde herabgestiegen.
    Zur Feier ihres dritten Jahrestages auf dem Baum veranstalteten wir eine kleine Party: ihre Hilfsmannschaft, ein Dutzend Journalisten, eine ganze Menge von einfachen E.F.!-Mitgliedern, auch Andrea und Teo kamen aus Los Angeles, und das war in Ordnung, ein Küßchen auf die Wange, eine Umarmung – »Alles okay bei dir, Ty? Wirklich? Du weißt, wo ich bin, wenn du mich brauchst« –, Andrea so schön und streng und Tierwater so ungelenk und dämlich, in etwas gefangen, das bis zum
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