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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde
Autoren: T.C. Boyle
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Ende durchgestanden werden mußte. Ich hatte Sierra eine Torte besorgt, die wohl eigentlich für irgend jemandes Hochzeit gedacht war – vier Etagen, schichtenweise Zuckerguß und obendrauf die einsame Plastikfigur einer Braut ohne Bräutigam. Mit dieser einsamen Braut wollte ich meiner Tochter etwas sagen: es war Zeit zum Runterkommen. Zeit zum Weiterleben. Zum Weiterstudieren, zum Heiraten, Kinderkriegen – zum Duschen, verdammt noch mal. Wenn sie die Bedeutung dieser verwaisten Figur begriff, ließ sie es mich jedenfalls nicht wissen. Aber sie behielt sie – die Figur –, bewahrte sie auf, als wäre es eine der herausgeputzten Puppen, für die sie Erlebnisse erfunden hatte, als sie ein mutterloses Mädchen allein in der Festung ihres Zimmers gewesen war.
    Eine Woche später. Keine zehn Grad, leichter Nieselregen. Diese Bäume, dieser Hain war mir inzwischen vertrauter als meine Wohnung oder das Haus, in dem ich aufgewachsen war. In der Luft lag der Duft von brennendem Holz, die gedämpften Geräusche des Waldes sanken langsam in den Abend hinein, ein verschleierter Sonnenstrahl legte ein leuchtendes Band über den Stamm ihres Redwoods, knapp oberhalb der unteren Plattform – die leer war, wie ich bemerkte, als ich den Hügel hinaufstieg und ihre Nummer in das Mobiltelefon tippte. Es war Viertel nach vier. Ich kam gerade von der Arbeit. Und rief meine Tochter die Baumbewohnerin an.
    Ihre Stimme meldete sich, leise und rauh, die gelassenste Stimme der Welt, eben als ich den Fuß des Baumes erreichte. »Hallo, Dad«, raunte sie in diesem Tonfall von Vertraulichkeit und Nähe, ebenso froh darüber, meine Stimme zu hören, wie ich mich über ihre freute, »was gibt’s Neues?« Ich wollte ihr gerade etwas erzählen, eine witzige kleine Episode von der Arbeit, wo ein Holzfäller – Sägewerksangestellter – in meinem Laden nach Kippschaltern gefragt hatte, aber er sprach es immer wie »Gippsalter« aus, und das klang wie »Sag mal, habt ihr hier auch Gips, Alter?«, als ihre Stimme in meinem Ohr aufschrie.
    Sie stieß einen überraschten Schrei aus – »Oh!« rief sie, oder vielleicht war es auch »Oh, Scheiße!« –, denn trotz der drei Jahre auf dem Baum und trotz des zupackenden, sicheren Griffes ihrer nackten, abgehärteten Zehen hatte sie das Gleichgewicht verloren. Das Telefon kam als erstes, ein schwarzes, rasend schnelles Geschoß, wie ein abgebrochenes Stück des tiefen düsteren Himmels, und es machte beim Aufschlagen ein eigenes besonderes Geräusch, es gab ein irgendwie mechanisches Quäken von sich, als wäre es ein kleines, auf den Bäumen lebendes Wesen, das beim Springen von Ast zu Ast eine minimale Fehleinschätzung begangen hatte. Aber das war nicht so schlimm, alles nicht so schlimm – sie hatte nur ihr Handy verloren, ich würde ihr ein neues besorgen, und hatte ich nicht gerade neulich eine Anzeige in der Zeitung gesehen und gleich an sie gedacht?
    Doch dann fiel etwas Größeres hinterher – viel größer, ein jäher dunkler Schemen, so riesig und abrupt, daß der Himmel ihn nie hätte halten können. Ich hörte ein Geräusch – einen plötzlichen, dumpfen, nassen Laut –, und dann war es still im Wald.
    Petunia ist kein Hund. Sie ist eine Patagonische Füchsin. Daran muß ich mich wieder erinnern. Es scheint bedeutsam. Es ist die Sorte Unterschied, die wichtig sein wird in dem Leben, das uns bevorsteht, ob nun oben auf dem Berg oder in einem Cloninglabor irgendwo in den Eingeweiden von New Jersey. Petunia ist kein Hund. Irgendwie wiederhole ich mir diesen Satz ständig, während wir uns die aufgeborstene Bergstraße hinaufschlängeln, die heiße Glut des Tages vor mir, Andrea schlafend an meiner Seite. Was mir auffällt, in den unteren Höhenlagen, das ist die Farblosigkeit des Waldes. Hier, wo die Laubbäume in voller Blätterpracht stehen sollten, sehe ich nichts als Welkheit und Zerfall, hundert skelettartige braune Strünke kommen auf einen grünen Baum. Die Chaparral-Hartlaubvegetation auf den Südhängen wirkt normal: leichenbleiche Grautöne und milchiges Grün, zwanzig Schattierungen von Beige, doch nach jeder Kurve, wenn die hohen Berge wieder in Sicht geraten, stimmen die Farben nicht mehr – aber vielleicht spielt mir das Gedächtnis auch nur einen Streich. Allein hierzusein, nach all den langen Jahren durch die sichtbare Welt zu fahren, verschafft mir Seelenfrieden.
    Natürlich gibt es die unvermeidlichen Apartmenthäuser. Und den Verkehr. Das hier war früher mal eine
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