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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde
Autoren: T.C. Boyle
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»Oh, verdammt.« Alle blicken auf und sehen einen nagelneuen roten Kastenwagen sich nähern. Die Reifen rollen in die tiefen Bodenwellen hinein und wieder heraus wie eine glänzende schwarze Flüssigkeit. Der Wagen fährt bis an die Treppe heran, so dicht, daß die Stoßstange praktisch das Geländer berührt, und der Barkeeper stößt ein leises gepreßtes Stöhnen aus. »Scheiße«, sagt er, »das ist Quinn.«
    Quinn ? War das möglich? War das menschenmöglich?
    »Trink aus, Bob«, sagt einer der gedrungenen Männer, und dann schieben sie ihre Barhocker zurück, klopfen ihre Taschen nach Schlüsseln ab, ächzend und keuchend und schlurfend. »So, wir müssen dann wieder, mach’s gut, Vince, bis später.«
    Ich betrachte fasziniert das Schauspiel, wie sich die tomatenrote Tür des Kastenwagens automatisch öffnet und eine mechanische Vorrichtung einen Rollstuhl aus dem Inneren herunterläßt, als Andrea meinen Arm ergreift. »Wir sollten auch weiterfahren, Ty, ich habe keine Ahnung, in was für einem Zustand die Hütte ist – Bettzeug, Decken, das Wesentliche. Es könnte eine Riesenenttäuschung werden – und ein Haufen Arbeit. Aber ich habe nicht vor, heute nacht im Auto zu schlafen, o nein, garantiert nicht.« Sie steht jetzt neben mir, die Handtasche um die Schulter geschlungen. »Ich geh nur eben noch auf die Toilette...«
    Quinn war bereits vor fünfunddreißig Jahren alt. Ein kleiner Affenmann mit verhutzeltem Gesicht und einem höchstens kokosnußgroßen Kopf, umherhuschender Schnüfflerblick und jede einzelne Zelle in Alkohol konserviert. Jetzt muß er neunzig, fünfundneunzig sein. Und da ist er auch schon, vor dem Fenster, läßt sich behutsam in den Rollstuhl nieder und drückt mit einem klauenartigen Finger auf die Fernbedienung, worauf die tomatenrote Schiebetür hinter ihm zugleitet. Und nun ist der Rollstuhl in Bewegung, die Eingangstür der Bar schwingt auf, und er ist im Raum.
    Ich spüre keinerlei Schuld, keinen Funken – damit ist es vorbei. Aber neugierig, das bin ich sehr wohl, und vielleicht auch ein bißchen wütend. Oder eher rachsüchtig. Ich fühle mich groß, richtig berüchtigt fühle ich mich auf einmal: Tyrone O’Shaughnessy Tierwater, der Öko-Rächer, das Phantom von Kalifornien, die menschliche Hyäne. »Hallo«, sage ich, als der motorisierte Stuhl an mir vorbeirollt, und beuge mich vor, um ihm ins Gesicht zu grinsen, »wie läuft’s denn so?«
    Nichts. Er ist so eingeschrumpelt und zerknittert wie ein Schrumpfkopf in Salzlake mit dem restlichen Körper noch dran, ein kleines Männchen aus nicht zusammenpassenden Teilen, das im funkelnden Stahl und polierten Aluminium seines Gefährts steckt. »Vincent«, ruft er, und seine Stimme klingt wie eine quietschende alte Scheunentür, »ich nehm das Übliche.«
    Eine Flasche Scotch – echter Scotch, Dewar’s, ein antiker Schatz – taucht wie von Zauberhand auf, und wir sehen beide zu, wie der Barkeeper ein Cocktailglas aus dem Regal nimmt, einen großzügigen Schuß einschenkt und einen Spritzer Wasser hinzufügt. Dann kommt er hinter der Theke hervor, den ganzen weiten Weg, und drückt dem alten Versicherungsheini den Drink vorsichtig zwischen die starren Finger. Quinn hebt ihn zitternd an die Lippen und leert das halbe Glas auf einen Zug, dann stellt er es sich in den Schoß und wendet mir das zerknautschte alte Gesicht zu. »Also, Mister Neuzugang«, sagt er, »du tust ja recht freundlich mit diesem breiten Grinsen im Gesicht – aber kenne ich dich nicht von irgendwoher?«
    Ich werde es ihm nicht leichtmachen. Ich zucke nur die Achseln, aber ich sehe Andrea aus dem Augenwinkel zurückkommen, in ihren flachen Schuhen, Rouge und Lippenstift sind aufgefrischt.
    Die Windungen eines Gehirns, das noch älter als der Kopf ist, in dem es steckt, brauchen eine Weile, und erst Andreas Auftauchen an meiner Seite bringt ihn darauf, dann aber verengen sich seine Augen und er sagt: »Klar kenn ich dich. Ich weiß genau, wer du bist.«
    Andrea lächelt. Sie hat keine Ahnung, worum es geht.
    Er scheint das Glas wieder zum Mund heben zu wollen, ein gefrorenes Grinsen auf dem Gesicht, ein berechnendes Blitzen in der Tiefe seines umwölkten Blicks. Seine Nase – er popelt an seiner Nase herum, fährt sich mit dem Finger am unteren Rand entlang, dann kramt er nach seinem Taschentuch und hält es sich vors Gesicht. Wir sehen schweigend zu, wie er den Kopf auf der wackligen Stütze des Nackens dreht, um seine Nase einer ausgedehnten,
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