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Ein dunkler Ort

Ein dunkler Ort

Titel: Ein dunkler Ort
Autoren: cbt Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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der Akte mit der Aufschrift »Anderson«. »Leuchte mal hier rüber. Ach, nein! Das ist ja französisch!«
    »Überrascht dich das? Das ist die Muttersprache meiner Mutter. Und meine übrigens auch.« Jules nahm ihr die Akte aus der Hand. »Hier, lass mich lesen.«
    »Aber laut!«, sagte Kit. Ein Augenblick verstrich. »Lies laut vor, Jules! Übersetze es mir!«
    »Lass es mich erst überfliegen.« Langsam bewegte Jules den Lichtstrahl über die Seite, hier und da hielt er inne, so als würde er bestimmte Passagen noch einmal lesen. Als er fertig war, legte er die Akte an ihren Platz zurück und zog die nächste heraus.
    »Was stand da?«, wollte Kit wissen. »Was ist mit Cynthia Anderson passiert?«
    »Hör auf zu drängeln, Kit«, sagte Jules unwirsch. »Ich will die anderen durchsehen. Was kann man von einem einzigen Fall schon ableiten?«
    »Na, beeil dich. Jetzt kann jeden Moment jemand kommen, der uns sucht.« Kit biss sich auf die Lippe und verfiel in Schweigen. Draußen heulte der Sturm weiter. Im Büro aber war kein anderes Geräusch zu hören als das Rascheln von Papier, während Jules eine Akte zuschlug und nach der nächsten griff.
    Gefühlte Stunden später legte er die letzte Akte zurück in die Schublade und schloss sie wieder.
    »Komm«, sagte er. »Wir gehen zurück in den Salon.«
    »Mehr sagst du nicht?« Kits Stimme überschlug sich fast vor Wut. »Du blätterst zwanzig Akten durch und wenn du fertig bist, erzählst du mir überhaupt nichts?«
    »Ich erzähl dir eines«, sagte Jules. »Und das ist, dass ich euch hier raushole.«
    »Was?« Kit starrte ihn an, aber sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. »Hab ich richtig gehört? Du schaffst uns hier raus?«
    »Je früher, desto besser«, sagte Jules. »Jetzt, heute Nacht, wenn es möglich ist. Und wenn nicht heute Nacht, dann gleich morgen früh.«
    »Aber was stand denn da? Was hast du in diesen Akten gefunden? Du musst es mir sagen!«
    »Ich muss dir gar nichts sagen.« Jules stand auf und nahm ihre Hand. »Es spielt keine Rolle, was in diesen Papieren stand. Es ist nur wichtig, dass ihr bekommt, was ihr wollt. Ihr fahrt nach Hause, alle vier, und wenn ich euch selber hinbringen muss.«
    Sein Ton war so entschlossen, dass Kit die Frage nicht weiterverfolgte. Sie ließ sich von ihm auf die Beine helfen und er leuchtete ihnen, als sie durch den unteren Flur gingen. Der Feuerschein vom Kamin fiel als rosa Streifen unter der Tür des Salons hindurch. Jules hielt Kit immer noch an der Hand, als er die Tür aufmachte. Er zog sie mit ins Zimmer. Mit einem schnellen Blick stellte Kit fest, dass sich die Szene nicht deutlich von der unterschied, die sie vor einer halben Stunde verlassen hatte. Sandy war noch immer vor dem Kamin, aber sie war jetzt still und saß vornübergebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben da, Professor Farley stand neben ihr und redete beschwichtigend auf sie ein. Ruth hatte sich den Sessel ans Feuer geschoben und versuchte beim Flackern der Flammen zu lesen.
    Madame Duret stand mit dem Rücken zur Tür und stellte Kerzenleuchter auf den Kaminsims. Sie drehte sich um, als sie hörte, dass die Tür aufging und sagte: »Jules? Wo hast du sie gefunden?«
    Er sprach leise. »Sie war im Büro, wie du vermutet hattest, und sie hat versucht zu telefonieren. Aber die Leitung ist wohl tot. Es gab kein Freizeichen.«
    »Gott sei Dank.« Madame richtete ihren eisigen Blick auf Kit. »Hast du dir wirklich eingebildet, mit so einem Manöver irgendetwas zu erreichen? Ich dachte, du hättest dich mittlerweile damit abgefunden, dass du in Blackwood bleiben wirst, bis du in den Weihnachtsferien nach Hause geschickt wirst. Was du auch tust, daran wird sich nichts ändern, und das Leben wird für dich und für uns andere sehr viel einfacher, wenn du das akzeptierst.«
    »Ich muss das nicht akzeptieren!«, sagte Kit trotzig. »Keine von uns muss das! Jules bringt uns hier raus!«
    »Das ist lächerlich«, sagte Madame energisch. »Jules wird nichts dergleichen tun. Er sagt das nur, damit du keine Szene machst. Jules hasst Unannehmlichkeiten.«
    »Gar nicht wahr! Er meint es ernst. Er hat es versprochen!«
    Sie hielt seine starke Hand ganz fest. »Du hast es doch versprochen, Jules. Hast du die Wahrheit gesagt?«
    »Ja«, sagte Jules.
    Das Wort fiel in den Raum wie ein Stein in einen See. Ein einziges Wort, aber das darauf folgende Schweigen zog immer größere Kreise und schien an den Wänden hochzuspritzen. Ruth ließ ihr Buch sinken, um ihn
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