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Ein Blatt Liebe

Ein Blatt Liebe

Titel: Ein Blatt Liebe
Autoren: Emile Zola
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und Helene in ihrem schwarzen Kleide auf
dem Stuhle sitzen sah, rief sie:
    »Er ist dagewesen. Wirklich! Ich weiß nicht, was er mir gegeben
hat … Ich bin jetzt steif wie ein Stock. Ach! wir haben von
Ihnen geplaudert. Er hat mich allerhand gefragt: ob Sie immer so
traurig wären, ob Sie immer solches Gesicht machten – er ist ein so
guter, guter Mensch!«
    Sie sprach langsamer, schien auf Helenes Gesicht die Wirkung
ihrer Worte abzulesen, mit jener schmeichelnden, ängstlichen Miene
armer Leute, die ihren Mitmenschen eine Freude machen wollen.
Wahrscheinlich glaubte sie auf der Stirn ihrer lieben Dame eine
Falte des Unmuts zu bemerken. Unsicher fuhr sie fort:
    »Ich schlafe immer. Ich bin vielleicht gar vergiftet. Eine Frau
in der Rue de l'Annonciation ist vom Apotheker vergiftet worden. Er
hatte ihr eine falsche Arznei gegeben.«
    Helene blieb heute fast eine halbe Stunde bei Mutter Fetu. Sie
hörte ihr zu, wie sie von der Normandie erzählte, wo sie herstammte
und wo man so gute Milch tränke. Nach
einigem Stillschweigen fragte Helene beiläufig:
    »Kennen Sie den Doktor schon länger?«
    Die Alte, die jetzt auf dem Rücken lag, hob die Lider und senkte
sie wieder.
    »Das will ich meinen!« antwortete sie leise. »Sein Vater hat
mich vor achtundvierzig behandelt, und er kam in seiner
Begleitung.«
    »Man hat mir gesagt, der Vater sei ein heiliger Mann
gewesen.«
    »O ja, o ja … ein bißchen Sausewind. – Der Herr Sohn, sehen
Sie, ist mehr wert. Wenn der Sie anfaßt, so glauben Sie, er hat
Samtfinger.«
    Neues Stillschweigen.
    »Ich rate Ihnen, alles zu tun, was er Ihnen sagt,« nahm Helene
wieder das Wort. »Er ist ein sehr gelehrter Herr, er hat meine
Tochter gerettet.«
    »Ganz gewiß,« rief die Mutter Fetu, warm werdend. »Man kann
Vertrauen haben, er hat einen Knaben zum Leben erweckt, den man
schon begraben wollte. Oh! Ich darf's schon sagen, liebe Dame: es
gibt keinen zweiten Mann, wie er ist – ach! Ich danke dem lieben
Gott auch alle Abende; ich vergesse weder ihn noch Sie, wenn ich zu
ihm bete – möge der liebe Gott Sie beschützen und Ihnen jeden
Wunsch erfüllen!«
    Die Alte hatte sich aufgerichtet und schien mit Inbrunst zum
Himmel zu flehen.
    Helene ließ sie gewähren – sie mußte fast lächeln. Die
geschwätzige Unterwürfigkeit des alten Weibes schläferte sie ein
und betäubte sie. Als sie fortging, versprach sie ihr eine Haube
und ein Kleid für den Tag, da sie das Bett würde verlassen
können.
    Die Alte erholte sich sehr langsam. Der
Doktor war verwundert und nannte sie einen Faulpelz, wenn sie ihm
erzählte, daß es ihr jetzt wie Blei in den Füßen läge. Endlich
mußte sie aufstehen. Am andern Morgen brachte ihr Helene das
versprochene Kleid und die Haube. Der Doktor war ebenfalls zugegen.
Plötzlich rief die Alte:
    »Ach Gott! ich hab's ja ganz vergessen. Die Nachbarin hat mich
gebeten, mal nach dem Feuer zu sehen.«
    Damit lief sie hinaus und warf die Tür hinter sich zu, den
Doktor mit Helene allein lassend. Sie setzten ihre Unterhaltung
fort, ohne zu merken, daß sie eingeschlossen waren. Der Doktor bat
Helene, des öfteren einmal nachmittags in seinen Garten in der Rue
Vineuse zu kommen.
    »Meine Frau,« sagte er, »soll Ihren Besuch erwidern und wird
auch meine Einladung wiederholen. Ihrem Kinde würde das gewiß
vorzüglich bekommen.«
    »Ich sage durchaus nicht nein. Ich verlange gar nicht, daß man
so viel Höflichkeit an mich verschwendet,« sagte sie lachend. »Bloß
fürchte ich, unbescheiden zu sein. Übrigens, wir werden ja
sehen … «
    So plauderten sie noch. Dann wunderte sich der Doktor:
    »Wo ist denn das Weib hingelaufen? Sie ist ja schon eine
Viertelstunde weg, um nach ihrem Feuer zu sehen.«
    Helene sah nun, ohne sich etwas dabei zu denken, daß die Tür
verschlossen war. Sie sprach von Frau Deberle, die sie tüchtig
lobte. Als aber der Doktor ständig den Kopf zur Türe wandte, fühlte
sie sich endlich peinlich berührt.
    »Eigentlich recht sonderbar, daß sie nicht zurückkommt.«
    Die Unterhaltung stockte. Helene, die nicht wußte, was beginnen,
öffnete die Dachluke; und als sie sich umwandte, vermieden sie,
einander mit den Blicken zu begegnen.
    »Ich habe sehr viel Besuche zu machen,« sagte
der Arzt. »Wenn sie nicht bald kommt, gehe ich.«
    Und dann ging er. Helene hatte sich gesetzt. Mutter Fetu trat,
sobald der Doktor die Stube verlassen hatte, mit riesigem
Wortschwall herein.
    »Ach! Ich habe nicht laufen können. Mich überfiel
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