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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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eisig deutlich. Man betrachtete ihn mit Verwunderung, vielleicht Angst. Man erfuhr, was geschehen war.
    Woher kam plötzlich dieser wilde Lebenswille. Oder war es Todeswille gewesen.
    Er konnte sein Leben nicht mehr lesen, oder seine Freunde. Die Welt war jetzt voller Feinde, die ihm Gutes wollten. Die Repliken waren dünn und schön und fielen klirrend zu Boden.
    An Silvester nur ein oder höchstens zwei, drei Glas Champagner.

Kapitel 16
DIE HEIMKEHR DES KREUZFUCHSES
    Sie kamen zu ihm und sagten: Du kannst uns nichts vormachen. Du versuchst ja, Selbstmord zu begehen. Du willst ja sterben.
    Aber verdammt, es musste doch angenehmere Arten geben, sich das Leben zu nehmen. Nicht diese sich hinziehende, schmutzige, schwitzige und erniedrigende Art. Sich selbst und alle, die man liebt, diesem Mist auszusetzen, im Ameisenhaufen zu liegen, und es krabbelt und sticht und die Angst, die nie nachlässt. Die Verachtung. Das Leben nicht mit einem Schlag abzuhauen, sondern es mit einer Feile abzufeilen, langsam, so schmerzhaft wie möglich. Man liegt da in einem Eisloch und kämpft wie ein Tier, um hochzukommen, und da oben stehen sie und sagen bekümmert: Aber du willst ja sterben .
    Er wollte tatsächlich leben. Und krallte sich wild an die Eiskante, um hochzukommen.
    Du willst ja sterben . Fahrt zur Hölle. Er wollte leben.
    Schon Mitte Januar 1990 war es schlimmer denn je. Er sah es selbst ein und widersetzte sich nicht.
    Lone, unfassbar ausdauernd, kannte eine Frau, die einer Klinik im Norden Seelands vorstand. Sie hieß Sanne. Sanne versprach, in aller Eile einen Platz zu beschaffen. Es ging schnell. Sie würde ihn selbst am Morgen des kommenden Tages abholen.
    Sanne war in den siebziger Jahren ein dänischer Fernsehstar und Nachrichtensprecherin gewesen und galt als sehr schön und begabt; aber dann hatte sie zu trinken angefangen, und alles war den Bach runtergegangen, und sie hatte zugenommen und wog schließlich über hundert Kilo. Doch sie hatte sich hindurchgerettet , und war jetzt Chefin in Kongsdal, dem Behandlungsheim, das neben Schloss Fredensborg lag, wo einst die Liebesbeziehung Struensees, des deutschen Leibarztes, mit der Königin Caroline Mathilde ihren Anfang genommen hatte, eine Liebesbeziehung, die ihn am Ende aufs Schafott brachte.
    Sanne kam pünktlich um sieben Uhr am Morgen. Sie war sehr effizient, und sie holten ihn aus dem Bett und zogen ihn an und setzten ihn auf einen Stuhl im Flur, und er sträubte sich nicht . Er versuchte, sich die Schuhe selbst anzuziehen, schaffte es aber nicht.
    Da setzte Sanne sich auf den Fußboden und zog ihm die Schuhe an. Lone sagte: Er will seinen Laptop mitnehmen, und er will mich anrufen können, wann er es möchte, ich glaube, beides ist wichtig, sonst haut er nur wieder ab . Und Sanne, die auf dem Boden saß und ihm die Schuhe zuband, sagte daraufhin nur: Es ist total gegen die Vorschriften, aber ich bin die Chefin, also machen wir das so .
    Lone brachte den Toshiba. Sie legte ihn in seinen Schoß, als wäre es ein Hundewelpe.
    Er war nicht nüchtern, die Aufnahmepromille sollten die Rekordzahl 1,95 zeigen, aber er sollte sich gut an diese Morgenstunde erinnern. Sanne hatte sich auf den Boden gesetzt und ihm die Schuhe angezogen, und Lone kam mit dem Laptop. Dann setzte Sanne ihn in den kleinen CV 4, legte ihm den Sicherheitsgurt an und fuhr nach Norden, den Kongevej entlang, nach Kongsdal. Es war der dritte Versuch, sein Leben zu retten.
    Zeit: 6. Februar 1990, acht Uhr am Morgen.
    Er wollte ja leben. Er wusste, dass er sich nicht durch ein Eisloch auf der Burebucht hinunterhacken wollte, mit dem Kartoffelsack auf dem Rücken wie Onkel Aron. Aber er wusste nicht, dass er jetzt in ein anderes Leben gefahren wurde.
    Es war ja das gleiche Modell, weder besser noch schlechter, das gleiche Behandlungsschema, das gleiche Große Buch, es waren die gleichen Einsichten wie in der M 87, und vermutlich auch auf Island, wenn er dort überhaupt etwas verstanden hatte.
    Und doch war alles vollkommen anders.
    Es war etwas Dänisches , Wärmeres, es war, als atmeten sie auf die Eishaut und das Gesicht des Menschen träte hervor, mit intaktem Selbstrespekt, aber ohne Lügen. Es war, als ob der besondere Tonfall der resoluten Sanne, als sie an jenem Morgen rasch die Regeln geändert hatte, ihm die Schuhe angezogen und ihn nach Kongsdal hinaufgefahren hatte, als ob dieser Tonfall durch all die Wochen nachklänge.
    Es war eine gute Zeit. Gute Kameraden. Sie hielten zusammen, aber
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