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Ein anderes Leben

Ein anderes Leben

Titel: Ein anderes Leben
Autoren: P Enquist
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nicht gegen die Leitung. Und was geschah, war etwas anderes als die Methode.
    Einige blieben ja immer auf der Strecke.
    Eine der Kameradinnen in Kongsdal, eine Frau um die Vierzig aus Hellerup, nahm sich einen Monat nach ihrer Entlassung das Leben. Er hatte ihren Mann und ihre beiden Töchter getroffen, Teenager, eine feine, loyale Familie, die felsenfest zu ihr hielt, aber dann schnitt sie sich in der Badewanne die Pulsadern auf. Es war ja am schlimmsten für die Frauen, die in der Scheiße stecken blieben. Die Scham schien doppelt schwer zu wiegen. Das sagten sie auf jeden Fall.
    Und einige waren ja nicht zu erreichen .
    Am Beginn der zweiten Woche wurde ein dreißigjähriger Mann aufgenommen, der unmittelbar von Gerüchten umgeben war; es hieß, er halte mit 7,15 Promille den dänischen Alkoholrekord. Medizinisch unmöglich, aber wahr. Unter den Kameraden wurden zuerst Witze darüber gemacht, das war doch ausgeschlossen, was für ein Seemannsgarn, auch wenn erklärt wurde, dass er drei Tage bewusstlos im Rigshospital gelegen habe und ihm mehrmals das ganze Blut ausgetauscht worden sei. Aber dann konnte Sanne berichten, dass seine Aufnahmepromille in Kongsdal tatsächlich 5,15 betrug.
    Und er war nicht bewusstlos.
    Sanne hatte ihn gebeten, in der ersten Nacht einige Stunden auf den Rekordhalter aufzupassen.
    Es war jetzt so anders: Weil in Kongsdal so wenig Zeit darauf verwendet wurde, die Insassen zu brechen und an ihren tiefsten Punkt zu bringen, hatten sie Zeit, sich um einander zu kümmern. Der Junge – er sah aus wie ein Junge – lag da und schwitzte und kämpfte sich durch den Ameisenhaufen und gurgelte seine Kommentare hervor und erzählte Fragmente eines Lebens. Er war Busfahrer, trank aus Prinzip ausschließlich Sherry, und wog nur fünfundsechzig Kilo. Er wollte nach Hause. Er erklärte, dass er nicht bleiben wolle. Zwei Tage nach seiner Aufnahme kamen seine Eltern und weinten. Es war ein älteres, kleingewachsenes Paar, das nur weinte und nichts begriff. Weil er eine Art von Verantwortung für den Rekordhalter verspürte, und Sanne ihn gebeten hatte, versuchte er den Eltern zu sagen, dass das Leben am Ende barmherzig sein konnte und dass es Gnade gab. Sie sahen nicht aus, als hätten sie viel Hoffnung, aber der Vater saß da und hielt die rechte Hand seines Sohns, als sei es noch möglich.
    Er gab Ratschläge! Als könnte er ihnen eine Antwort geben, der sich selbst keine Antwort geben konnte. Dennoch versuchte er es. So war die Stimmung in Kongsdal, die Insassen durften nach ein paar Wochen den Allerelendesten Rat geben.
    Der Rekordhalter konnte schon nach drei Tagen gehen, wenn auch schwankend.
    Er war so dünn. Er sagte nichts mehr, schwieg nur. In den Therapiestunden war er der Schweigsame . Nur in der ersten Nacht hatte er gesprochen, als er ihm lallend von seinem Leben erzählte, dem Schweden, der die ganze Nacht ausgehalten und gesagt hatte, dass auch er zu den Niedrigsten gehöre.
    Nach acht Tagen floh er. Er hat wohl den Bus genommen.
    Er selbst konnte im Büro ein Telefongespräch von seiner Tochter Jenny entgegennehmen. Sie sagte, dass sie ihn bewunderte, weil er es noch einmal versuchte. Und auch wenn es dieses Mal nicht klappen würde, bewundere sie ihn, weil er es trotz allem versuchte .
    Manchmal ist ein Wort ein richtiges Wort, auch wenn es nicht so besonders klingt. Seine Tochter bewunderte ihn.
    Er konnte es fast nicht ertragen.
    Er legte den Hörer zurück und sagte zu denen, die ihn fragend ansahen, es sei nichts.

Er hatte sich ja entschieden, damals im Schnee auf Island.
    Aber wie machte man es.
    Er war so oft gescheitert. Er krallte sich mit den Nägeln an die Eiskante, aber wie lange würde er sich festhalten können.
    In der fünften Nacht gegen zehn Uhr holte er den Toshiba heraus, bevor er ins Bett ging.
    Sie hatten Doppelzimmer, und im selben Zimmer wie er lag ein fünfundsiebzig Jahre alter Bauer aus Jütland, der zirka hundertfünfzig Kilo wog und den sie deshalb Greven nannten, den Graf. Er schlief unmittelbar ein und schnarchte laut die ganze Nacht, doch das machte nichts, und am nächsten Morgen war er immer einsilbig und finster und sagte mit klagender Stimme Ich habe kein Auge zugetan die Nacht, ich konnte nicht schlafen . Es war vielleicht wahr. Wer weiß, was für schreckliche Träume er hatte.
    Aber in der fünften Nacht, als der Graf schnarchte, begann er, Kapitän Nemos Bibliothek zu schreiben. Den Titel hatte er ja, von der Woche in Brighton. Er stand ganz
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