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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen
Autoren: Andrea Sawatzki
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Mund verzieht sich zu einem traurigen Lächeln, dann schüttelt er sacht den Kopf, als würde er ihre Lüge durchschauen.
    Trotzdem reicht sie ihm ein paar Tabletten und lächelt. Er schlägt nach ihrer Hand, dann dreht er sich um und verschwindet wieder in den Flur. Die Schritte klingen noch lange in ihren Ohren nach, und auf einmal weiß sie, dass sie ihn nie mehr loswerden wird. In ihrem ganzen Leben nicht.

FREITAG
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5
Die Ärztin nahm eine Veränderung wahr, die sich in der Patientin vollzog. Sie schien ruhiger zu werden. Aber sie erzählte wenig und schien gedanklich oft abwesend zu sein. Dr. Minkowa hätte gern Anteil gehabt an den Geschichten, die durch Manuela Scribas Kopf spukten, ihr ein wenig von der Angst und Niedergeschlagenheit genommen, die ganz sicher in ihr herrschten. Aber ihre Patientin kapselte sich mehr und mehr ab. Sie wirkte erschöpft, als ob sie sich den Gedanken und Erinnerungen, die sie niederdrückten, vollkommen ergab. Sie schien den Widerstand langsam aufzugeben, die Macht der Vergangenheit zuzulassen.
    Es konnte ein gutes Zeichen sein, wenn ein Patient den Schmerz nicht mehr ausschloss. Sich nicht wehrte und selbst betrog, um nichts spüren zu müssen.
    Die Ärztin sprach fast täglich mit der jungen Frau, und auch wenn diese nur wenig von sich gab, hatte Dr. Minkowa dennoch das Gefühl, dass ihr ihre Anwesenheit gut tat.

SAMSTAG
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Als Dr. Minkowa in die Krankenstation der Haftanstalt gerufen wurde, wusste sie, dass etwas Ernstes geschehen sein musste. Man hatte die Inhaftierte bei dem abendlichen Kontrollgang ohnmächtig und blutüberströmt in ihrem Zimmer vorgefunden. Sie war nicht ansprechbar und hatte offenbar versucht, sich den Schädel zu zertrümmern, indem sie ihn immer wieder gegen die Wand geschlagen hatte.
    Dr. Minkowa eilte durch die leeren Flure und trat schwer atmend durch die Tür der Notaufnahme. Manuela Scriba lag auf einem Bett, den Kopf bandagiert. Als sie ihre Therapeutin erblickte, begann sie zu weinen. Dr. Minkowa setzte sich an ihr Bett, nachdem sie darum gebeten hatte, ein paar Minuten mit der Patientin allein sein zu dürfen. Lange sahen sie sich an.
    Dann sagte die junge Frau leise: »Ich hab heute Nacht den Traum zu Ende geträumt. Wissen Sie? Den Traum, der mich immer so quält und bei dem ich nie wusste, was daran nicht stimmte. Jetzt weiß ich es.«
    »Sie müssen jetzt nicht darüber sprechen, wir haben Zeit. Bleiben Sie ganz ruhig, alles wird gut.«
    Der zuständige Arzt hatte Manuela Scriba starke Schmerz- und Beruhigungsmittel gegeben, doch sie zitterte am ganzen Leib.
    »Nein, nein, ich muss es sagen. Bitte, bleiben Sie, gehen Sie nicht weg, Sie müssen wissen, wer ich bin, damit ich da rauskomme. Ich will da raus.« Sie schluchzte auf, Tränen rannen über ihr geschwollenes Gesicht. »In den Träumen wusste ich immer, dass das Ende mich irgendwann einholen wird.«
    »Dann erzählen Sie. Ich höre Ihnen zu«, sagte Dr. Minkowa.
    Lange schwieg ihre Patientin und starrte mit leerem Blick an die Zimmerdecke. Dr. Minkowa nahm ihre kalte Hand und hielt sie fest.
    »Es war mitten in der Nacht. Draußen tobte ein Sturm, der Wind pfiff und heulte, die Fensterläden klapperten. Und ich hatte Angst. Meine Mutter arbeitete, und ich war wie immer allein mit meinem Vater. Die letzten Tage und Nächte war er zu schwach gewesen, um aufzustehen. Und meine Mutter hatte mehr als einmal zu mir gesagt: ›Jetzt geht es zu Ende mit Papa.‹ Aber ich traute dem nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, jemals von ihm erlöst zu werden. Es war schon so oft so gewesen, dass er nach Tagen absoluter Schwäche plötzlich wieder im Türrahmen stand und nach etwas zu essen verlangte. Obwohl er gar nicht mehr schlucken konnte.
    Ich lag also in meinem Bett und lauschte und wusste nicht, ob mich der Sturm geweckt hatte oder ein anderes Geräusch. Reglos lag ich da, und plötzlich vernahm ich das Geräusch der Türklinke, wie sie langsam nach unten gedrückt wurde. Sie quietschte immer leise, aber doch laut genug, dass ich stets davon aufwachte oder einen Schrecken bekam. Ich war auf dieses Geräusch trainiert.
    Ich bewegte mich nicht. Ich wusste nicht, wer sich da an meiner Tür zu schaffen machte, denn den Vater hatte ich vor Stunden bettfertig gemacht, ich hatte gesehen, wie er in einen todesähnlichen Tiefschlaf gesunken war.
    Langsam öffnete sich die Tür, und in dem schwachen Lichtschein erkannte ich die Umrisse meines Vaters. Er stand unbeweglich im Türrahmen
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