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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen
Autoren: Andrea Sawatzki
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langsam. Ich saß neben meinem Vater auf dem Boden und streichelte sein weniges graues Haar. Er hatte die Augen beinah geschlossen, stöhnte im Rhythmus seines Atems und röchelte leise. Irgendwann flüsterte er: ›Ich bin durstig.‹
    Da stand ich auf, lief in die Küche und füllte Wasser in ein Glas. Als ich am Medikamentenschränkchen vorbeikam, blieb ich stehen, bückte mich und öffnete es. Ich nahm die Valiumtabletten heraus, das Lexotanil, gab beides in das Glas, ging zum Küchenschrank, holte den Mörser aus der Schublade und zerrieb alles zu einem weißen Brei. Dann ging ich zurück in mein Zimmer, kniete mich neben meinen Vater auf den Boden, nahm sacht seinen Kopf in meinen Arm, öffnete seinen Mund und flößte ihm das Gift ein. Er schluckte widerwillig, gurgelte und versuchte, sich zu wehren. Aber ich war stärker als er. Ich umklammerte sein Gesicht und zwang ihn dazu, alles hinunterzuschlucken.
    Irgendwann wehrte er sich nicht mehr, da hielt ich seinen Kopf wieder sanfter und murmelte Worte, die ich nicht kannte. Ich streichelte wieder sein Haar und wiegte ihn wie ein Kind. Und ich schwöre, ich schwöre, nie habe ich ihn so unendlich geliebt wie in diesem Moment.«
    Ihr Körper verkrampfte sich, sie schloss die Augen, dann seufzte sie und fuhr fort:
    »Er blickte auf und sah mir in die Augen. Und da hatte ich das Gefühl, dass er wusste, wer ich war. Zum ersten Mal. Später habe ich ihn über den Flur in sein Bett zurückgezerrt. Ich habe ihn schön zugedeckt, ihm übers Gesicht gestreichelt, das Licht gelöscht und die Tür geschlossen. Danach ging ich zu Bett und wartete auf den Tagesanbruch.
    Ich wusste, dass er nicht mehr aufstehen würde. Und der letzte Mensch, den er in seinem Leben gesehen hatte, war nicht meine Mutter. Sondern ich. Das machte mich glücklich.«
    Sie schwieg, und es breitete sich eine unendliche Stille aus. Auch Dr. Minkowa sagte nichts, vielleicht weil sie sprachlos war, vielleicht weil sie ahnte, dass Manuela Scriba noch etwas hinzufügen wollte. Und tatsächlich öffnete ihre Patientin in diesem Augenblick den Mund und sprach weiter:
    »Ich wünsche mir so sehr, dass er mir verzeihen kann. Dass er mich verstehen kann. Ich würde gern mit ihm darüber sprechen, was geschehen ist. Als würden wir uns gegenseitig eine Geschichte erzählen. An einem strahlenden Sommernachmittag, auf unserer Terrasse, vor dem großen Blumenbeet, und aus der Küche strömt der Duft von frisch gebackenem Kuchen. Dann würde meine Mutter aus dem Haus treten, den Kuchen auf einem Tablett, mit ihrem schiefen, frechen Grinsen, das ich als kleines Mädchen so gern mochte, und sagen: ›Wieder nix geworden, der blöde Kuchen.‹
    Ich wünschte, meine Mutter wäre noch am Leben. Ich wünschte, ich könnte sie im Arm halten und ihr sagen: ›Es ist vorbei, aber das Leben geht weiter. Und das Leben ist schön.‹
    Sie hatte sich immer eine Familie gewünscht. Genau wie mein Vater und ich. Manchmal betrachte ich alte Fotos und denke: Was wären wir für eine tolle Familie gewesen, wenn uns das Schicksal besser behandelt hätte. Dieser Gedanke macht mich ruhig.
    Verzeihen zu können, egal ob sich selbst oder anderen, ist so unglaublich schwer. Aber wenn es gelingt, bricht der Himmel auf, und es wird hell und warm.
    Eines Tages werde ich mich nicht mehr davor fürchten, vor die Tür zu treten. Ich mache den Sommer zu meinem Freund. Die Sonne wird mich blenden und mir ein Lächeln abringen, ich spüre die Wärme ihrer Strahlen auf meiner Haut, das sanfte Streicheln des Windes, höre das Rauschen der Blätter, das Lachen spielender Kinder. Dann habe ich keine Angst mehr. Dann bin ich erlöst.«

EPILOG
    Es dämmerte bereits, als Dr. Minkowa nach Hause fuhr. Die Temperaturen waren gestiegen, Regen prasselte auf das Dach ihres Citroën, und das monotone Kratzen der Scheibenwischer beruhigte sie ein wenig.
    Sie hatte die junge Frau auf der Krankenstation zurückgelassen und versprochen, sie gleich am nächsten Morgen wieder zu besuchen.
    Sie hatten jetzt viel zu tun.
    Ungeheuerlich, was die junge Frau ihr in den frühen Morgenstunden anvertraut hatte. Manuela Scriba war zwölf Jahre alt gewesen, als sie ihren Vater getötet hatte. Ein Kind, nicht schuldfähig.
    Sie würde sie nicht allein lassen. Sie hatte sich vorgenommen, die junge Frau auf dem Weg zurück ins Leben zu begleiten. Ihr zu helfen, das Trauma ihrer Kindheit zu verarbeiten und die Last Stück für Stück von ihren Schultern zu nehmen, auch wenn
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