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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen
Autoren: Andrea Sawatzki
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noch frech war, hab ich mir ein paar gefangen. Er konnte noch mit siebzig rennen wie ein Wiesel, er war, glaube ich, ganz früher mal deutscher Leichtathletikvizemeister. Das macht mich schon stolz. Also das schnelle Rennen hab ich von ihm geerbt. Ich hab auch die gleiche Knieform.«
    Sie lächelte vorsichtig, denn darauf war sie wirklich stolz. Es schien, als hätte sie ihren Vater vergöttert.
    »Ich sehe auch aus wie er. Ich hab die gleichen Augen und die gleiche Nase und den gleichen Mund. Die gleichen schiefen Zähne und die gleichen ungleichen Ohren. Ich mag das alles. Sehr. Meine Eltern haben eigentlich immer nur über Geld geredet. Nicht über Liebe oder dass sie froh sind, mich zu haben, oder so.«
    Sie machte eine Pause, weil ihr plötzlich bewusst wurde, wie unzusammenhängend sie erzählte. Aber es hatte ihr gefehlt als Kind. Dann wischte sie den Gedanken beiseite.
    »Wäre ja auch zu viel verlangt gewesen. Ich kostete ja zusätzlich.«

MONTAG
    4
1
»Das ganze Wochenende über habe ich versucht herauszufinden, warum ich ausgerechnet als Prostituierte gearbeitet habe, wo ich mich doch so vor nackten Männern geekelt habe. Ich fand Männer schon immer abstoßend. Aber auf eine komisch anziehende Art. Verstehen Sie, was ich meine? Ich habe mich vor meinem Vater und seinem Schwanz geekelt. Es war mir fast unerträglich, ihn zurück ins Bett bringen zu müssen. Und ich war irgendwie wütend auf ihn, weil er mir das antat. Weil er mich benutzte, um ihn anzusehen. So empfand ich das zumindest als Kind. So, als sei ich daran schuld gewesen, dass er auf einmal nackt vor mir stand.
    Vielleicht war es deshalb wichtig für mich, Männer zu dominieren. Mit ihnen zu spielen. Und Sex ist ja wohl auch eine Art Spiel, um Macht und so. Keine Ahnung.
    Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich keine schlimmen Macken davongetragen habe. Bis der alte Mann mir dann begegnet ist.«
    Sie spürte, wie der Hass und die Verzweiflung wieder in ihr hochkamen. Die Übelkeit, die ihren Gaumen zusammendrückte, und den heißen Speichel, der sich in ihrem Mund ansammelte. Das Pfeifen in ihren Ohren begann und schwoll so in ihr an, dass sie sich wie von der Welt abgeschnitten fühlte. Taub und blind und gefühllos. Sie atmete tief ein und versuchte, bei sich zu bleiben.
    »Der hat den Tod verdient«, flüsterte sie. Ihre Stimme klang heiser. »Der hatte kein Recht dazu, weiterzuleben. Das dreckige Schwein.« Sie sah Dr. Minkowa lange an. So, als warte sie auf ein Zeichen der Zustimmung. »Oder?«
    Ihre Ärztin aber blieb stumm und rührte sich nicht. Kein Zeichen des Einverständnisses war zu erkennen, und plötzlich hatte die junge Frau das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Angeklagt zu werden für eine Tat, die unvermeidbar gewesen war. Sie hatte aus Notwehr gehandelt. Der alte Mann hatte ihr die Würde geraubt. Solche Männer musste sie doch bestrafen.
    »Finden Sie nicht?«
    »Was meinen Sie?«
    »Dass er den Tod verdient hat.«
    »Er hat Ihnen bestimmt sehr wehgetan. Und in dem Moment wussten Sie keinen anderen Ausweg.«
    »Das war nicht meine Frage.«
    »Ich spreche kein Urteil über Sie. Aber es ist nicht richtig, anderen Menschen das Leben zu nehmen. Und das wissen Sie auch. Aber es ist wichtig zu verstehen, warum das alles geschehen ist.«
    »Sie geben mir die Schuld an dem, was passiert ist?«
    »Ich möchte Ihnen helfen zu verstehen, damit Sie mit all dem besser fertig werden.«
    »Was ist das für eine Scheiße? Dieses Schwein war es nicht wert! Ihr kotzt mich an mit eurer Scheißgerechtigkeit, mit dieser Feigheit! Ihr habt doch keine Ahnung vom Leben. Ihr sitzt auf euren Samthöckerchen und faselt dieses selbstgefällige Scheißzeug. Lasst mich in Ruhe. Haut ab! Ihr wisst es nicht! Ihr wisst es nicht!«
    Sie war aufgesprungen und schlug mit der Faust auf den Tisch ein.
    Die Therapeutin stand langsam auf. Ein Pfleger erschien an der Tür und fragte sie etwas. Doch sie schüttelte nur stumm den Kopf und ging hinaus.

DIENSTAG
    4
2
Als die junge Frau am nächsten Morgen erwachte, dachte sie an die letzte Begegnung mit der Psychiaterin. Und ihre Wut und Enttäuschung verwandelten sich in Misstrauen. Ein Misstrauen, das sie allzu gut kannte. Sie fühlte sich verraten. Sie konnte sich nicht schuldig fühlen, warum verstand das niemand?
    Sie saß auf ihrem Bett, den Rücken an die Wand gelehnt, und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Bemühte sich, ihre Gefühle zu dem alten Mann zu verstehen, ihre Wut auf ihn. Aber es
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