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Eiertanz: Roman (German Edition)

Eiertanz: Roman (German Edition)

Titel: Eiertanz: Roman (German Edition)
Autoren: Claudia Brendler
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konnte, wenn sie wollte, schickte ausgeklügelte Checklisten an Veranstalter und beantwortete Anfragen. Manchmal griff ich sogar zu Zeitungspapier und Glasreiniger und polierte unsere Fensterscheiben, die unsere Putzfrau gern vernachlässigte. Es kam vor, dass ich dabei sang. Nur am frühen Morgen hatte ich Lust zu singen.
    Allerdings nicht an diesem Morgen. Laufen war um einiges anstrengender als Fensterputzen. Schon in der Mitte des ersten Liedes hämmerte mein Herz schneller als der Beat, mein Gesicht glühte, und ohne Ohrstöpsel hätte ich ein jämmerliches Japsen und Hecheln gehört.
    Weil ich den Spaziergängern auf dem Hauptweg den Anblick meiner sportlichen Qualen nicht zumuten wollte, bog ich auf einen schmalen Pfad voller Schlaglöcher ab, überquerte eine kleine Brücke über einem ausgetrockneten Bach. Und stand nach einer Minute wuchtiger Schritte und schwingender Limonen vor einem Drahtzaun. Kniehoch. Dahinter eine Wiese. An deren Ende ein weiterer Zaun. Und dahinter etwas, das aussah wie ein Pfad in den Wald.
    »Entschlossen ist sie ja«, sagte meine Mutter gern über mich, »leider entschließt sie sich oft für das Falsche.«
    Mit einem Satz sprang ich über den Zaun. Angenehm, wie der Grasboden federte. Toll, wie ich durchhielt, alle Hindernisse überwand. Erstaunlich, wie schnell mein Kopf wieder klar wurde. So klar, dass ich mit einem Mal vor mir sah, worauf ich arglos zurannte. Vielleicht auch deswegen, weil es seinerseits auf mich zukam. Ich stoppte mitten im Lauf. So heftig, dass ich stolperte und ihm vor die Füße fiel. Es trug eine Glocke. Es hatte Hörner. Es hielt sie gesenkt. Und ich, zitternd am Boden, hatte nichts Besseres zu tun, als meinen Player abzuschalten. Um meinen eigenen Schrei zu hören. Einen heiseren, dennoch durchdringenden, peinlich jämmerlichen Schrei.
    Der Stier glotzte mich an. Schnaufte. Und kam noch etwas näher. Das war das Ende. So schnell konnte es gehen. Ich hatte es immer schon geahnt. Der Stier wartete, rupfte sogar Gras beim Warten, ließ mir gnädig Zeit für meinen Lebensfilm, den Überblick über meine neunundzwanzig Jahre: Der Moment, als ich begriff, dass meine neugeborene Schwester für immer bei uns bleiben würde, die Enttäuschung über den gesunden Inhalt meiner Schultüte, Julias seliges Lächeln, als ich ihr zeigte, wie man mit dem Mundstück der Blockflöte eine Lokomotive nachahmt, die vielen einsamen Pliés in der Ballettschule von Frau Bilgen, mit eingezogenem Bauch und nach außen gedrehten Füßen. Un, deux, trois, quatre – und auf keinen Fall den Po rausstrecken. Ich war niemals Bonbonfee geworden, diejenige, die am Ende der Stunde mit der Bonbondose von Schülerin zu Schülerin trippeln durfte. Meine kleine Schwester war Bonbonfee gewesen, nach ihr sogar mein Bruder, der fünf Jahre Ballettunterricht durchgestanden hatte, ohne schwul zu werden. Ich hatte im rebellischen Alter von elf Jahren mit einem wütenden Biss in die Ballettstange endlich meine Abmeldung bewirkt, und meine Mutter hatte angefangen, mich mit diesem resignierten Blick anzusehen, der nur für mich bestimmt war.
    Jetzt sah mich die Bestie an. Aus braunen, erstaunlich dicht bewimperten Augen. Prüfend. Um sich plötzlich abzuwenden, ihren Siebenhundertkilokörper herumzuwerfen und einige Schritte von mir wegzutrotten, begleitet von einem leicht verächtlichen Schwenken ihres Schwanzes. Der Stier hielt mich offensichtlich für die dümmste Kuh, die jemals auf seiner Wiese gelegen hatte.
    Bevor ich darüber nachdenken konnte, was diese Tatsache für meinen Lebensfilm bedeutete, war die Zunge schon in meinem Gesicht. Eine feuchte, rauhe Zunge. Etwas Haariges, über mir, um mich, an mir. Eine Stimme.
    »Aus, Floh, aus, kommst du her! Floh!«
    Der Hund ließ von mir ab. Nicht ohne noch einmal über mein Gesicht zu lecken. Genüsslich. Und bedauernd.
    »Entschuldigung. Er ist sonst nicht so … anhänglich. Bei Fuß, Floh.«
    »Floh?«
    Der Hund war riesig. Muskeln unter braungrau geflecktem, buschigem Fell. Seine breite Schnauze schien ein Lächeln anzudeuten.
    »Was ist das? Ein Lawinenhund?«
    »Kaukasischer Owtscharka mit Golden Retriever. Er scheint Sie zu mögen.«
    Ganz im Gegensatz zu seinem Besitzer. Der diesen Satz mit einiger Missbilligung ausgesprochen hatte und mich herablassend ansah. Der Mann von gestern. Dunkel und äußerst ungern erinnerte ich mich an sein hilfloses Losprusten, bevor er über den Parkplatz verschwunden war. Den Grund dafür verdrängte ich
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