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Ehrensache

Titel: Ehrensache
Autoren: Ian Rankin
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flacher. Er hatte den Eindruck, dass
sich ihm hier bei Tageslicht ein trostloses Bild bieten würde. Hier war nichts als verkümmerte
Wildnis, selbst für die genügsamsten Schafe zu wenig. Irgendwo vor ihm erhob sich etwas Dunkles
in den Himmel, irgendeine Hügelkette.
Der Wind, der zwar sein Hemd getrocknet, dessen Kälte ihm aber bis ins Mark gekrochen war, legte
sich. Gott, tat ihm der Kopf weh. Wie Sonnenbrand, nur hundertmal schlimmer. Er starrte in den
Himmel hinauf. Die Umrisse von Wolken waren zu erkennen. Das Wetter klarte auf. An Stelle des
pfeifenden Winds drang nun ein anderes Geräusch an sein Ohr.
Das Geräusch von fließendem Wasser.
Je weiter er ging, desto lauter wurde es.
Mittlerweile hatte er Knox' Lichtstrahl aus den Augen verloren, und er war sich bewusst, dass er
ganz allein war.
Ihm war auch klar, dass er sich nicht zu weit hinauswagen sollte, weil er sonst möglicherweise
nicht mehr zurückfände. Wenn er eine falsche Richtung einschlüge, könnte er in einer Einöde
landen, wo es nichts als Hügel und Wald gäbe. Er blickte zurück. Die Silhouette der Bäume war
immer noch einigermaßen zu erkennen, von den Lichtern des Hauses dahinter war jedoch nichts mehr
zu sehen.
»Jack! Jack!« Knox' Stimme schien Meilen entfernt.
Rebus beschloss, in die Richtung zu gehen, aus der die Stimme kam. Wenn Gregor Jack irgendwo da
draußen war, dann sollte er doch ruhig erfrieren. Der Rettungsdienst würde ihn morgen schon
finden...
Der Fluss schien jetzt viel näher. Der Boden unter seinen Füßen wurde steiniger, die Vegetation
karg. Das Wasser war irgendwo unter ihm. Er blieb wieder stehen. Die Umrisse und Schatten vor
ihm... sie ergaben keinen Sinn.
Es war, als hörte das Gelände vor ihm einfach auf. Genau in diesem Augenblick kam der Mond hinter
einer riesigen Wolke hervor, ein großer, beinahe voller Mond. Es wurde heller, und Rebus sah,
dass er nur etwa einen Meter von einem steilen Abgrund von fünf bis sechs Metern Tiefe entfernt
stand, eine Schlucht, durch die sich ein düsterer Fluss wand. Rechts von ihm war ein Geräusch zu
hören. Er drehte den Kopf in die Richtung. Eine Gestalt näherte sich schwankend. Sie war vor
Erschöpfung tief vornüber gebeugt, die Arme schwangen locker an den Seiten und berührten beinah
den Boden. Ein Affe, war sein erster Gedanke. Er sieht aus wie ein großer Affe.
Gregor Jack keuchte schwer, stöhnte beinahe vor Anstrengung. Er achtete nicht darauf, wohin er
ging; er wusste nur, dass er in Bewegung bleiben musste.
»Gregor.«
Die Gestalt atmete pfeifend, und der Kopf fuhr hoch.
Dann blieb Gregor Jack stehen und richtete sich zu seiner vollen Größe auf und bog den Kopf weit
zurück in den Nacken. Er hob die müden Arme und stützte die Hände in die Taille, beinah wie ein
Läufer am Ende eines Rennens.
Instinktiv fuhr er mit einer Hand in sein Haar und schob es ordentlich zurück. Dann beugte er
sich nach vorn, legte die Hände auf die Knie, und die Haare fielen ihm wieder ins Gesicht. Doch
sein Atem wurde allmählich gleichmäßiger.
Schließlich richtete er sich wieder auf. Rebus sah, dass er lächelte, seine perfekten Zähne
zeigte. Er begann, leise lachend den Kopf zu schütteln. Rebus hatte ein solches Lachen schon von
Leuten gehört, die irgendetwas verloren hatten, ihre Freiheit oder eine große Wette oder auch nur
ein unbedeutendes Fußballspiel. Sie lachten über ihre eigene Situation.
Gregors Lachen wurde zu einem Husten. Er schlug sich auf die Brust, dann sah er Rebus an und
lächelte wieder.
Dann stürzte er los.
Rebus wich instinktiv zur Seite, doch Jack lief in eine ganz andere Richtung. Und beide wussten
genau, wohin er wollte. Nachdem sein Fuß das letzte Stückchen Erde berührt hatte, segelte er
durch die Luft und ließ sich nach unten fallen. Zwei Sekunden später hörte man, wie sein Körper
auf dem Wasser auftraf. Rebus ging vorsichtig an den Rand des Felsen und schaute hinunter, doch
genau in diesem Augenblick schob sich die Wolke wieder vor den Mond. Das Mondlicht verschwand. Es
war nichts zu sehen.

Auf dem Rückweg zur Deer Lodge benötigten sie Knox' Taschenlampe nicht. Die Flammen erhellten die
Landschaft um sie herum. Glühende Asche regnete auf die Bäume, während die Männer durch den Wald
gingen. Rebus fuhr sich mit den Fingern über den Hinterkopf. Die Haut brannte. Doch er hatte das
Gefühl, dass der Schock allmählich einsetzte, der Schmerz war nämlich nicht mehr ganz so schlimm
wie vorher.
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