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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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Einen Augenblick überkam sie der alte Wunsch wegzulaufen; aber es
war nur das Flattern eines gebrochenen Flügels. Sie hörte, wie hinter ihr die
Tür aufging, und Mr. Royall kam herein.
    Er hatte sich beim Friseur rasieren
lassen, und sein struppiges graues Haar war gestutzt und geglättet. Er bewegte
sich rasch und entschieden, straffte die Schultern und trug den Kopf hoch.
    »Was machst du denn im Dunkeln?«
rief er fröhlich. Charity gab keine Antwort. Er ging ans Fenster, um das Rollo
herabzuziehen, und berührte mit dem Finger die Wand, worauf der Lüster an der
Deckenmitte den Raum in gleißendes Licht tauchte. Einen Augenblick lang sahen
sich Mann und Frau in dieser ungewohnten Beleuchtung verlegen an; dann sagte
Mr. Royall: »Gehen wir runter und essen etwas zum Abend, wenn es dir recht
ist.«
    Der Gedanke an Essen erfüllte sie
mit Widerwillen; aber sie wagte nicht, es zuzugeben, strich sich übers Haar und
folgte ihm zum Aufzug.
    Als sie eine Stunde später aus dem Lichterglanz des
Speisesaals herauskamen, wartete Charity in der marmorverkleideten Halle auf
Mr. Royall, der sich vor dem Messinggitter eines der Eckkioske eine Zigarre aussuchte
und eine Abendzeitung kaufte. Männer rekelten sich in Schaukelstühlen unter den
funkelnden Kronleuchtern, Reisende kamen und gingen, es wurde ständig
geklingelt, Dienstmänner schlurften mit Koffern vorbei. Während Mr. Royall an
der Kiosktheke lehnte, lächelte und nickte über seine Schulter hinweg ein Mädchen
mit aufgetürmter Frisur einem adretten Handlungsreisenden, der an der
Rezeption am anderen Ende der Halle seinen Schlüssel in Empfang nahm,
affektiert zu.
    Inmitten dieser Strömungen und
Gegenströmungen des Lebens stand Charity so reglos und untätig da, als sei sie
einer der am Marmorboden festgeschraubten Ti sche. Ihr ganzes Inneres hatte
sich zu dem einen schwindelerregenden Gefühl kommenden Unheils verdichtet, und
sie beobachtete mit fasziniertem Entsetzen, wie Mr. Royall Zigarren in
verschiedenen Kistchen befingerte und mit ruhiger Hand seine Abendzeitung
auseinanderfaltete.
    Dann drehte er sich um und trat zu
ihr. »Du gehst jetzt gleich hinauf schlafen – ich setz' mich noch eine Weile
hin und rauche meine Zigarre«, sagte er. Er sprach so unbeschwert und
natürlich, als seien sie ein altes Ehepaar, lange an die Art des anderen
gewöhnt, und ihr verkrampftes Herz zitterte vor Erleichterung. Sie folgte ihm
zum Aufzug; er geleitete sie hinein und trug dem Liftboy in seiner Livree voller
Knöpfe und Tressen auf, sie zu ihrem Zimmer zu führen.
    Sie tastete sich ihren Weg durch die
Dunkelheit, denn sie hatte vergessen, wo der elektrische Schalter war, auch
wußte sie nicht, wie man ihn bediente. Doch ein weißer Herbstmond war
aufgegangen, und der erleuchtete Himmel warf einen bleichen Schein in das
Zimmer. In diesem Licht entkleidete sie sich, und nachdem sie die gekräuselten
Kissenbezüge zusammengefaltet hatte, schlüpfte sie verschämt unter die
makellose Bettdecke. Noch nie hatte sie so glatte Laken und so leichte warme
Decken gefühlt; aber die Weichheit des Bettes tröstete sie nicht. Zitternd lag
sie da, und die Angst rann durch ihre Adern wie Eis. »Was hab' ich getan? Oh,
was hab' ich getan?« flüsterte sie erschauernd in ihr Kissen; sie preßte ihr
Gesicht hinein, um die blasse Landschaft hinter dem Fenster auszuschließen, und
sie lag im Dunkeln, horchte angestrengt
und erbebte bei jedem Schritt, der näher kam.
    Plötzlich setzte sie sich auf und
preßte die Hände gegen ihr erschrecktes Herz. Ein schwaches Geräusch hatte ihr
verraten, daß jemand im Zimmer war; sie mußte aber in der Zwischenzeit
geschlafen haben, denn sie hatte niemanden hereinkommen hören. Der Mond ging
hinter den Dächern jenseits des Fensters unter, und in der Dunkelheit, vor dem
grauen Viereck des Fensters, sah sie eine Gestalt im Schaukelstuhl sitzen. Die
Gestalt bewegte sich nicht: sie war mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen
tief in den Stuhl gesunken, und Charity sah, daß es Mr. Royall war. Er hatte
sich nicht entkleidet, sondern sich nur die Decke vom Fußende des Betts
genommen und über seine Knie gelegt. Zitternd und mit angehaltenem Atem
beobachtete sie ihn, fürchtend, ihn mit ihrer Bewegung geweckt zu haben; aber
er rührte sich nicht, und sie schloß daraus, daß er sie glauben machen wolle,
er schlafe.
    Während sie ihn weiter beobachtete,
überkam sie langsam eine unaussprechliche Erleichterung, und ihre
überanstrengten Nerven und ihr
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