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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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luxuriösen Dinge, für die sie ihre
Ersparnisse verschleudert hatte, und als sie sie jetzt betrachtete, stieg ihr
das Blut ins Gesicht. Sie legte die Bluse auf den Tisch, schlich leise durch
das Zimmer, schob den Riegel zurück und ging hinaus ...
    Der Morgen war eiskalt, und eine
blasse Sonne ging eben über der Ostflanke des Berges auf. Die auf dem Hügel
verstreuten Häuser lagen kalt und leblos unter den sonnengefleckten Wolken, und
keine Menschenseele war zu sehen. Charity blieb auf der Schwelle stehen und
versuchte den Weg zu erkennen, auf dem sie am Abend zuvor hergekommen war.
Jenseits des Feldes, das Mrs. Hyatts Schuppen umgab, sah sie das baufällige
Haus, in dem, wie sie glaubte, der Trauergottesdienst stattgefunden hatte. Der
Pfad führte zwischen den beiden Häusern hindurch und verschwand in dem
Tannenwald an der Flanke des Berges; und ein Stückchen weiter rechts, unter
einem windzerzausten Weißdornstrauch, bildete ein frischer Erdhügel einen
dunklen Fleck auf den rehbraunen Stoppeln. Charity ging über das Feld zu dem
Grabhügel. Beim Näherkommen hörte sie in der stillen Luft einen Vogel singen,
und als sie hochblickte, sah sie einen braunen Sperling auf einem Zweig oben im
Weißdorn über dem Grabe sitzen. Sie blieb eine Weile stehen und lauschte seinem
kleinen, einsamen Lied; dann kehrte sie zum Pfad zurück und begann den Hügel
zum Tannenwald emporzusteigen.
    Bis jetzt hatte sie der blinde
Fluchtinstinkt vorwärtsgetrieben; aber jeder Schritt schien sie den Realitäten
näherzubringen, von denen sie sich in ihrer fiebrigen Nachtwache nur ein
schattenhaftes Bild gemacht hatte. Nun, da sie sich wieder im Tageslicht
bewegte und zu vertrauten Dingen zurückkehrte, wurde ihre Phantasie nüchterner.
Nur über eines war sie sich weiter im klaren: sie konnte nicht in North Dormer
bleiben, und je eher sie wegkäme, desto besser. Aber alles jenseits lag im
dunkeln. Während sie höher hinaufstieg, wurde der Wind schneidender, und als
sie aus dem Schutz der Tannen auf den ungeschützten, grasbewachsenen Gipfel
des Berges trat, fiel der kalte Wind von der Nacht zuvor über sie her. Sie
krümmte die Schultern und kämpfte eine Weile gegen ihn an; aber es verließ sie
der Atem, und sie setzte sich unter einen Felsvorsprung, über den zitternde
Birken herabhingen. Von ihrem Platz konnte sie auf den Pfad hinabsehen, der
sich über das ausgebleichte Gras in Richtung Hamblin wand, und auf die
Granitwand des Berges, die in unendliche Fernen abfiel. Auf dieser Seite des
Kamms lagen die Täler noch in winterlichem Schatten; aber in der Ebene dahinter
beschien die Sonne Dorfdächer und Kirchtürme und vergoldete den dunstigen Rauch
über weit entfernten unsichtbaren Städten.
    Charity kam sich wie ein kleines
Pünktchen im einsamen Himmelsrund vor. Die Ereignisse der vergangenen zwei
Tage schienen sie für immer von ihrem kurzen Traum vom Glück getrennt zu haben.
Selbst Harneys Bild war durch dieses niederschmetternde Erlebnis verwischt: in
ihren Gedanken war er so weit von ihr entfernt, daß er kaum mehr als eine
Erinnerung schien. In ihrem erschöpften, konfusen Inneren besaß nur eine
Empfindung das Gewicht der Wirklichkeit: es war die körperliche Bürde ihres
Kindes. Ohne sie hätte sie sich so entwurzelt gefühlt wie die Flocken der
Distelwolle, die der Wind an ihr vorübertrieb. Ihr Kind war wie ein Gewicht,
das sie am Boden festhielt, aber zugleich wie eine Hand, die ihr beim Aufstehen
half. Sie sagte sich, sie müsse sich auf die Beine machen und sich Weitermühen
...
    Sie wandte den Blick zurück zu dem
Pfad über den Gipfel des Berges und sah in der Ferne einen Einspänner, der
sich gegen den Himmel abzeichnete. Sie kannte seine altmodische Form und die
magere Gestalt des alten Pferdes, das sich mit gesenktem Kopf vorwärts
kämpfte; und gleich darauf erkannte sie die massige Gestalt des Mannes, der
die Zügel hielt. Der Einspänner folgte dem Pfad und fuhr direkt auf den
Tannenwald zu, durch den sie hinaufgestiegen war; und sie wußte sofort, daß der
Fahrer auf der Suche nach ihr war. Ihre erste Regung war, sich unter den
Felsvorsprung zu hocken, bis er vorbeigefahren war; aber über den Impuls, sich
zu verstecken, siegte das Gefühl der Erleichterung, daß jemand inmitten dieser
entsetzlichen Leere bei ihr war. Sie stand auf und ging dem Einspänner entgegen.
    Mr. Royall sah sie und gab dem Pferd
die Peitsche. Ein paar Minuten später war er neben Charity; ihre Augen
begegneten sich, und wortlos
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