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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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über sein schwitzendes
Gesicht.
    »Durch unseren Herrn Jesus Christus,
der unsere sterbliche Hülle verwandeln wird, auf daß sie werde wie sein
glorreicher Körper, gemäß dem Willen des Allmächtigen, wodurch er alle Dinge
sich untertan machen kann ...« Die letzte Schaufel Erde fiel auf den elenden
Leichnam Mary Hyatts, und Liff stützte sich auf seinen Spaten, während sich
seine Schultern noch immer von der Anstrengung hoben und senkten.
    »Herr, erbarme Dich unser, Christus,
erbarme Dich unser, Herr, erbarme Dich unser ...«
    Mr. Miles nahm der alten Frau die
Laterne aus der Hand und ließ ihr Licht über den Kreis trüber Gesichter
gleiten. »Kniet jetzt nieder, alle miteinander«, befahl er in einem strengen
Ton, wie ihn Charity noch nie an ihm gehört hatte. Sie kniete am Rand des
Grabes nieder, und die anderen ließen sich steif und zögernd neben ihr auf
die Knie hinunter. Auch Mr. Miles kniete sich hin. »Und nun betet mit mir – ihr
kennt das Gebet«, sagte er und begann: »Vater unser, der du bist im Himmel ...«
Ein paar Frauen fielen stockend ein, und am Schluß des Gebetes warf sich der
Mann mit dem glatten Haar an den Hals des großen jungen Mannes. »Es war so«,
sagte er, »ich hab' ihr noch gestern abend gesagt, ich sag' zu ihr ...« Die
Erinnerung endete in einem Schluchzen.
    Mr. Miles hatte den Mantel wieder
angezogen. Er kam auf Charity zu, die noch immer reglos neben dem hastig
aufgeschütteten Erdhügel kniete.
    »Kind, du mußt kommen. Es ist schon
sehr spät.« Sie hob die Augen zu ihm: er schien aus einer anderen Welt zu
sprechen.
    »Ich komm' nicht mit: ich bleibe
hier.«
    »Hier? Wo? Was meinst du damit?«
    »Das sind meine Leute. Ich bleibe
bei ihnen.«
    Mr. Miles senkte die Stimme. »Aber
das geht nicht – du weißt nicht, was du tust. Du kannst nicht bei diesen Leuten
bleiben: du mußt mit mir kommen.«
    Sie schüttelte den Kopf und stand
auf. Die Gruppe um das Grab hatte sich in der Dunkelheit verstreut, aber die alte
Frau mit der Laterne stand da und wartete. Ihr kummervolles, verwelktes Gesicht
wirkte nicht unfreundlich, und Charity ging auf sie zu.
    »Hast du einen Platz, wo ich heute
nacht schlafen kann?« fragte sie. Liff, der den Einspänner aus der Dunkelheit heranführte,
kam auf sie zu. Er sah mit seinem matten Lächeln von der einen zur anderen.
»Das ist meine Mutter. Sie bringt dich heim«, sagte er; dann setzte er mit
erhobener Stimme an die alte Frau gewandt hinzu: »Sie ist das Mädchen von
Anwalt Royall – Marys Mädchen ... erinnerst du dich?«
    Die Frau nickte und sah Charity mit
ihren traurigen alten Augen an. Als Mr. Miles und Liff in den Einspänner
stiegen, ging sie mit der Laterne voraus, um ihnen den Weg zu zeigen, den sie
einschlagen mußten; dann kehrte sie um, und schweigend gingen sie und Charity
durch die Nacht.

17
    Charity lag am Boden auf einer Matratze wie der
Leichnam ihrer Mutter. Der Raum, in dem sie lag, war kalt und dunkel, hatte
eine niedrige Decke und war noch ärmlicher und kahler als der Ort, an dem Mary
Hyatts Erdenlos sein Ende gefunden hatte. Auf der anderen Seite des erloschenen
Ofens schlief Liff Hyatts Mutter auf einer Decke, und zwei Kinder – ihre Enkel,
hatte sie gesagt – schmiegten sich an sie wie zwei schlafende Welpen: ihre
dünnen Kleider waren über sie gebreitet, denn die einzige andere Decke hatten
sie dem Gast gegeben.
    Durch das kleine rechteckige Stück
Glas in der gegenüberliegenden Wand sah Charity in den Himmel wie in einen
tiefen Schacht – so schwarz, so entfernt, so funkelnd von eisigen Sternen, daß
es ihr vorkam, als würde selbst ihre Seele davon aufgesogen. Irgendwo dort
oben, so glaubte sie, wartete der Gott, den Mr. Miles angerufen hatte, auf Mary
Hyatts Erscheinen. Was für ein langer Flug! Und was würde sie zu sagen haben,
wenn sie zu Ihm gelangte?
    Charitys verwirrter Geist versuchte
mühevoll, sich die Vergangenheit ihrer Mutter vorzustellen und sie auf
irgendeine Weise mit dem Ratschluß eines gerechten, doch barmherzigen Gottes in
Einklang zu bringen; aber es war nicht möglich, sich irgendeine Verbindung
zwischen ihnen zu denken. Sie selbst fühlte sich so weit entfernt von dem armen
Geschöpf, dessen Beerdigung in einem hastig geschaufelten Grab sie mitangesehen
hatte, als trenne sie die Höhe des Himmelszelts voneinander. Sie hatte in
ihrem Leben Armut und Unglück gesehen; aber in einer Gemeinschaft, in der die
arme sparsame Mrs. Hawes und die fleißige Ally der Vorstellung von bitterer
Not
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