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Edith Wharton

Edith Wharton

Titel: Edith Wharton
Autoren: Sommer
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darin
zu betrachten, und blieb sitzen, die gefalteten Hände auf den Knien, bis der
Pfarrer zurückkam. Dann verließen sie das Haus, gingen eine Art Arkadengang
entlang und kamen in einen niedrigen gewölbten Raum mit einem Kreuz auf einem Altar
und mehreren Bankreihen. Der Pfarrer, der sie an der Tür allein gelassen hatte,
tauchte plötzlich vor dem Altar in einem Talar auf, und eine Dame, vermutlich
seine Frau, und ein Mann in einem blauen Hemd, der auf dem Rasen dürre Blätter
zusammengerecht hatte, kamen herein und setzten sich in eine der Bänke.
    Der Pfarrer schlug ein Buch auf und
gab Charity und Mr. Royall ein Zeichen, näher zu kommen. Mr. Royall ging ein
paar Schritte voraus, und Charity folgte ihm, so wie sie ihm zu dem Wagen
gefolgt war, als sie aus Mrs. Hobarts Küche gekommen waren; sie hatte das
Gefühl, wenn sie nicht in seiner Nähe bliebe und täte, was er ihr sagte, glitte
ihr die Erde unter den Füßen weg.
    Der Pfarrer begann, aus dem Buch
vorzulesen, und in ihrem benommenen Inneren sah Charity Mr. Miles vor sich, wie
er am Abend zuvor in dem trostlosen Haus auf dem Berg aus demselben Buch Worte
vorgelesen hatte, die ebenso erhaben und endgültig klangen:
    »Ich fordere euch beide auf, so wie
ihr euch verantworten werdet am schrecklichen Tag des Jüngsten Gerichts, wenn
die Geheimnisse aller Herzen offenbar werden, daß, wenn einer von euch beiden
von einem Hindernis weiß, durch welches ihr nicht rechtmäßig vereinigt werden
dürft ...«
    Charity hob die Augen und begegnete
Mr. Royalls Blick. Er sah sie noch immer freundlich und unverwandt an. »Ja!«
hörte sie ihn wenig später sagen, nachdem weitere Worte gesprochen worden
waren, die sie nicht aufgenommen hatte. Sie war so bemüht, die Zeichen zu
verstehen, die der Geistliche ihr gab, daß sie nicht mehr auf das hörte, was gesagt
wurde. Wieder eine Weile später stand die Dame von ihrer Bank auf, ergriff
Charitys Hand und legte sie in die von Mr. Royall. Sie wurde von seiner
kräftigen Hand umschlossen, und sie spürte, wie ihr ein Ring, der ihr zu groß
war, auf den schmalen Finger gestreift wurde. Da begriff sie, daß sie
verheiratet war.
    Spät am Nachmittag saß Charity
allein in einem Zimmer des eleganten Hotels, in dem sie und Harney am 4. Juli
vergebens einen Tisch gesucht hatten. Noch nie hatte sie ein so schön
möbliertes Zimmer gesehen. In dem Spiegel auf dem Toilettentisch spiegelten
sich der hohe Kopfteil und die gekräuselten Kissenbezüge des Doppelbetts und
eine Bettdecke, die so makellos weiß war, daß Charity zuerst gezögert hatte,
Hut und Jacke darauf zu legen. Der summende Heizkörper verbreitete eine
Atmosphäre wohliger Wärme, und durch eine halb geöffnete Tür sah sie glänzende
vernickelte Wasserhähne über zwei marmornen Waschbecken.
    Eine Zeitlang fiel der Aufruhr der
Nacht und des Tages von ihr ab, und sie saß mit geschlossenen Augen da und
überließ sich dem Bann von Wärme und Ruhe. Aber dann folgte dieser wohltuenden
Gleichgültigkeit die plötzliche Klarsicht, mit der Kranke manchmal aus einem
schweren Schlaf erwachen. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf das
Bild über dem Bett. Es war ein großformatiger Stich in einem blendend weißen
Passepartout, das von einem breiten Ahornholzrahmen mit einer vergoldeten
Innenleiste eingefaßt war. Der Stich zeigte einen jungen Mann in einem Boot auf
einem von Bäumen überhangenen See. Er beugte sich heraus, um für ein Mädchen
in einem leichten Kleid, das im Heck auf Kissen ruhte, Wasserlilien zu
pflücken. Die Szene war von einem verträumten hochsommerlichen Gleißen
erfüllt, und Charity wandte die Augen ab, stand auf und begann, ruhelos im
Zimmer auf und ab zu gehen.
    Das Zimmer lag im vierten Stock, und
das große Spiegelglasfenster blickte über die Dächer der Stadt hinweg. Dahinter
erstreckte sich eine waldige Landschaft, in der die letzten Strahlen der
untergehenden Sonne ein metallisches Funkeln erzeugten. Verwundert starrte
Charity auf den glänzenden Fleck. Selbst im dunkler werdenden Zwielicht
erkannte sie die Umrisse der sanften Hügel, die ihn umgaben, und der Wiesen,
die zu seinem Rand hin abfielen. Es war der See von Nettleton, auf den sie
blickte.
    Lange Zeit stand sie am Fenster und
sah auf das Wasser, das immer blasser wurde. Bei seinem Anblick kam ihr zum
erstenmal zu Bewußtsein, was sie getan hatte. Selbst der Ring, den sie an ihrem
Finger spürte, hatte ihr nicht so kraß das Gefühl der Unwiderbringlichkeit
vermittelt.
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