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Ebbe und Glut

Ebbe und Glut

Titel: Ebbe und Glut
Autoren: Katharina Burkhardt
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plötzlich alle Leute?« Henny klang beunruhigt. Sie hatte den Artikel über Boy Kesslers Tod ebenfalls gelesen und Mia angerufen.
    »Das liegt vermutlich an unserem Alter. In früheren Zeiten hätten wir ab vierzig nur noch schwarz getragen. Die ewig trauernden Weiber.« Auch Mia war beunruhigt. Welche Todesnachricht würde sie als nächste erhalten? Die ihres eigenen Vaters? Oder ihrer Mutter? Das ganze Leben schien nur noch aus Abschiednehmen zu bestehen.
    »Wenn wenigstens ab und zu mal ein Kind geboren würde, dann könnte man wieder ein wenig Hoffnung schöpfen.« Hennys Stimme hörte sich ungewöhnlich bedrückt an. »Aber die meisten unserer Freundinnen sind durch mit dem Thema. Und wir haben es irgendwie verpasst. Mit Stefan steigst du ja wohl kaum in die Familienplanung ein, oder?«
    Henny hegte schon seit Wochen berechtigte Zweifel an der Fortsetzung dieser Beziehung. Nach dem Silvesterurlaub hatte sich das Verhältnis zwischen Mia und Stefan deutlich verändert. Sie gingen immer noch liebevoll und respektvoll miteinander um, aber sie sahen sich viel weniger als früher.
    Hennys nüchterne Analyse gab Mia einen Stich. Tatsächlich, sie hatte es verpasst. Stefan würde weiter ziehen. Und sie hatte keinen Mann in Aussicht, mit dem sie eine Familie gründen konnte. In diesem Jahr wurde sie zweiundvierzig. Bald war sie zu alt, um noch Mutter zu werden. Traurig registrierte sie einen weiteren, schmerzhaften Abschied.
     
    Die Trauerfeier fand an einem grauen, kalten Februartag im Hamburger Michel statt. Die anschließende Beisetzung auf dem Ohlsdorfer Friedhof sollte im engsten Familienkreis stattfinden. Die große Kirche war jedoch brechend voll, und Mia sah Arthur und Marlit zunächst gar nicht. Alles, was in Hamburg Rang und Namen hatte, wollte sich von dem großen Boy Kessler verabschieden. Mia hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen da sein würden, die sie aus den Medien kannte. Dies war eine ganz andere Art der Abschiednahme als die kleine Familienfeier für Hartmut Lohmann in der Kapelle seines Heimatdorfes. Schüchtern setzte Mia sich in eine der hintersten Reihen an den Rand. Sie war enttäuscht, als ihr klar wurde, dass ein persönliches Gespräch mit Arthur in dieser Atmosphäre nicht möglich sein würde. Verstohlen schielte sie in seine Richtung, als sie ihn endlich entdeckte.
    Er sah allerdings auch nicht so aus, als bräuchte er ihre Unterstützung. Vielmehr drängten sich haufenweise Menschen um ihn, die ihm die Hand drückten und ihm Trost zusprachen, während er, umringt von seiner Familie, durch den Hauptgang nach vorne ging. Souverän wie immer bedachte er alle mit der gewünschten Aufmerksamkeit und schob seine Mutter behutsam durch die Menschenmenge zu ihrem Platz.
    Die Feier war festlicher als die für Franks Vater, aber auch offizieller. Es gab zahlreiche Reden von Freunden und Kollegen, die Boy Kessler würdigten. Seine Beerdigung war ein öffentliches Ereignis, das auch in den Medien viel Beachtung fand. Mia fragte sich, wie die Familie mit diesem Rummel fertig wurde.
    Beim Auszug aus der Kirche ging Arthur Arm in Arm mit Marlit direkt hinter dem Sarg her, gefolgt von seinen Brüdern und ihren Familien. Er hielt den Blick starr und wie versteinert nach vorne gerichtet. Es war schwer auszumachen, wer hier wen stützte. Marlit, deren Gesicht hinter einem Schleier verborgen war, wirkte sehr klein und zerbrechlich, aber sie schritt aufrecht und mit festem Gang aus der Kirche. Als Arthur an Mia vorbei kam, drehte er plötzlich den Kopf zur Seite und schaute ihr direkt in die Augen. War das Zufall, oder hatte er sie doch schon vorher bemerkt? Mia nickte ihm leicht zu und deutete ein trauriges Lächeln an. Arthur nickte ernst zurück.
    Die Menschen strömten aus der Kirche und umringten Marlit Kessler und ihre Söhne. Mia hielt sich abseits. Zögernd trat sie den Rückzug an. Gern hätte sie Marlit und Arthur ihr Beileid ausgesprochen. Aber, so erkannte sie, dies war nicht der Ort dafür. Hier gab es nicht die familiäre Intimität eines ostwestfälischen Dorffriedhofs, auf dem man hemmungslos weinen und trauern konnte. Wieder spürte sie die Enttäuschung darüber, dass sie nicht wenigstens ein paar Sätze mit Arthur wechseln konnte.
    Als sie nach Hause kam, fühlte sie sich seltsam leer und erschöpft. Sie würde Marlit Kessler eine Karte schreiben. Das hätte sie gleich tun sollen, statt in den Michel zu fahren.
     
    Ihr Telefon klingelte.
    »Wo hast du denn gesteckt?«,
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