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Dystopia

Dystopia

Titel: Dystopia
Autoren: Patrick Lee
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verringerte allmählich die Flughöhe, ohne das Tempo zu drosseln. Travis sah vor ihnen die Freifläche, die rasend schnell näher kam. In wenigen Sekunden hatten sie die noch verbliebene Strecke zurückgelegt.
    «Okay, jetzt gut festhalten», rief der Pilot.
    Travis klammerte sich mit der rechten Hand am Durchgang fest, während er mit der linken den Zylinder an sich drückte. Er sah, wie der Pilot den Steuerknüppel zurückriss, doch zunächst geschah nichts. Dann kippten Park und Skyline, die durch die Windschutzscheibe zu sehen waren, auf einmal nach unten weg, weil sich der Hubschrauber steil zum Heck hinneigte. Durchs Fenster war nur noch blauer Himmel zu sehen. Gleichzeitig schwang der massive Heckausleger herum wie ein Mikrophongalgen, und als Travis den Park gleich darauf wieder erblickte, drehte er sich wie ein Schulhof, den man von einem Drehkarussell aus betrachtet. Er sah, wie Leute unter ihnen in alle Richtungen stoben, um sich in Sicherheit zu bringen, während der Hubschrauber geschwind gen Erde trudelte.
    Kurz vor der Landung warf Travis noch einmal einen Blick auf die Uhr. Noch eine Minute und vierzig Sekunden.
     
    Paige dachte noch immer über Bethanys Frage nach, als auf einmal das Geräusch einsetzte. Ein tiefes, basslastiges Dröhnen, das durch die Bäume drang, ein wenig wie das Brummen großer Lautsprecherboxen neben einer Konzertbühne, die auf höchste Lautstärke eingestellt waren. Das Geräusch war rhythmisch, pulsierte regelmäßig. Wie die Rotoren eines Hubschraubers.
    Bethany zuckte ebenso heftig zusammen. Es war fast unmöglich zu lokalisieren, wo das Geräusch herkam. Das tiefe Dröhnen schien von allen Seiten zu kommen.
    Dann hörten sie einen Mann, der von sehr weit her aus Leibeskräften nach ihnen rief.
    Travis.
    Sie sollten ihm antworten, schrie er.
    Und so schnell wie möglich losrennen.
     
    Kaum durch die Iris, rannte Travis los, um so rasch wie möglich den Hubschrauberlärm hinter sich zu lassen, in dem er Paige und Bethany unmöglich hätte hören können. Er sah sich einmal kurz um und konnte durch die Öffnung den hell erleuchteten Hubschrauberinnenraum sehen. Auf dieser Seite war die Iris von mächtigen Kiefern und Laubbäumen umgeben, die die Freifläche längst überwuchert hatten.
    Fünfzig Meter südlich der Iris blieb er stehen.
    Schrie laut nach Paige und Bethany.
    Horchte.
    Nichts.
    Zumindest nichts, was er über den Hubschrauberlärm hinweg hätte hören können. Hätte er doch die Piloten bloß aufgefordert, das verfluchte Ding abzuschalten! Der Gedanke war ihm in der allgemeinen Hektik gar nicht gekommen. Jetzt war es dafür zu spät. Er sah auf die Uhr.
    Er hatte noch fünfzig Sekunden.
    Er schrie erneut nach den beiden.
    Gleich darauf hörte er sie. In weiter Ferne, rechts vor ihm. Er drückte den Zylinder an sich und spurtete los, immer wieder Haken schlagend, um den Bäumen auszuweichen. Ihre Stimmen klangen sehr weit entfernt. Womöglich zu weit, um es noch zu schaffen, obwohl sie nun selbst auf ihn zugelaufen kamen. Er verdrängte diesen Gedanken mit aller Macht und rannte einfach nur.
    Da kam ihm ein anderer, noch unangenehmerer Gedanke: Was, wenn er die Frist falsch berechnet hatte? Wenn ihm am Ende zehn entscheidende Sekunden fehlten? Er hatte den Zeitraum so genau wie möglich zu berechnen versucht und immer extra großzügig abgerundet, wenn sich das nicht vermeiden ließ. Durchaus möglich also, dass er ein paar Sekunden mehr hatte als vermutet – oder eben leider ein paar Sekunden weniger.
    Im Laufen warf er einen Blick auf den Zylinder. Der letzte blaue Leuchtpunkt schimmerte ihm teilnahmslos entgegen.
    Er schrie weiter ihre Namen.
    Konnte ihre Stimmen inzwischen besser hören, auch über das Geräusch seiner Schritte hinweg.
    Sie waren schon dichter.
    Aber nur ein wenig.
    Noch dreißig Sekunden.
    Er steigerte sein Tempo noch etwas. Spürte, wie seine Beinmuskeln zu brennen begannen, und freute sich verzweifelt über den Schmerz.
    Während er weiter nach Paige und Bethany horchte, wurde ihm bewusst, dass er schon viel mehr als bloß ihre Stimmen hören konnte. Da war das Geräusch ihrer durchs Unterholz brechenden Körper. Sie waren bereits dichter als vermutet. Viel dichter. Die Zeit würde reichen.
    Als er durch das Astwerk zweier dicht beieinanderstehender Kiefern gedrungen war, sah er mit Schrecken, dass er sich geirrt hatte.
    Dieses Geräusch kam nicht von Paige und Bethany.
    Sondern von einem Rudel Weißwedelhirsche, dreißig oder vierzig
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