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Durchgebrannt - Roman

Durchgebrannt - Roman

Titel: Durchgebrannt - Roman
Autoren: Kristina Dunker
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einen Schuldigen, den sie packen können. Und Sarah? Wie wird Sarah erst reagieren?
    Sie aber, die gute, alte Sarah, bemerkt meine Not und hat mal wieder die beste Idee. Für einen Moment sind ihre Lippen wieder so lebendig wie früher. Sie grinst mich an mit ihrem typisch spöttischen Sarah-Grinsen, zwinkert mir zu und sagt: »Danke. Das mache ich erst auf, wenn alle weg sind.«
    »Wieso das denn?« Tante Margarete ist enttäuscht.
    »Jetzt sind wir doch alle neugierig«, sülzt Onkel Thomas.
    »Dann« -- plötzlicher Hustenanfall -- »hab ich aber noch was Schönes hier, wenn ich wieder allein bin.«
    Das ist meine Rettung. Die Familie beruhigt sich. Mama spricht hoffnungsvoll von der neuen Therapiephase und zerteilt den Kuchen: Jeder Schnitt ist wie der eines Chirurgen. Erst schneiden wir die Zehen ab, dann die Füße, dann die Beine. Ach, Sie werden dabei ein bisschen schwerhörig und sehen aus wie ein Zombie, aber was soll's, das werden Sie schon überleben. Hahaha!
    »Florian, du siehst so blass aus, nimm du zuerst.« Oma Hilde gibt mir ihren Teller. Ich mag nichts essen. Ich bin deprimiert und will nicht hören, wie TanteMargarete sagt, dass Sarah gut aussehe, und Onkel Thomas behauptet, sie würde nächste Woche wieder im Tor stehen. Sarah war nie Torwart; Thomas ist schlecht informiert. Ich will schon gar nicht sehen, wie Sarah schwach dazu nickt. Es scheint ihr egal zu sein, welchen Schwachsinn die Leute von sich geben. Dann blinzelt sie mir zu und ich weiß plötzlich, warum sie letztens so getan hat, als ob sie meine wichtige Frage nicht hört. Wahrscheinlich wollte sie einfach nicht gegen meine Eltern anreden, wollte sich raushalten: aus Kraftlosigkeit oder weil sie immer versucht, es allen recht zu machen.
    Genau wie in diesem Augenblick. Sie will bestimmt keinen Kuchen, denn sonst würde sie den Teller nicht ansehen, als lägen lebendige Käfer drauf.
    »Probier mal«, sagt meine Mutter, die auf ihrem Bett sitzt. »Ein kleines Stückchen, komm. Den hast du dir doch gewünscht.«
    Sarah kostet, schluckt mit dürrem Hals und einer dicken blauen Ader auf der Stirn. Dann lächelt sie tapfer und so erschöpft, als hätte sie einen Achttausender bestiegen.
    »Lecker«, haucht sie, und wer nicht sieht, dass das gelogen ist, muss blind oder total behindert sein. »Eigentlich müsste ich jetzt noch achtzehn Kerzen auspusten, aber« -- Luftschnappen -- »das muss wohl der Flo für mich machen.«
    Ich sehe mich suchend um. Meine Mutter hat die Kerzen gar nicht erst auf den Kuchen gesteckt.
    »Ich hab sie dabei, aber . . .«
    »Mama, weißt du, was du mir zum Achtzehnten versprochen hast?«
    »Daran glaube ich immer noch«, beteuert meine Mutter. »Wir müssen nur noch ein bisschen warten und Geduld haben.« Ihre Stimme bricht, ihre Kraft ist am Ende; das weiß ich schon lange.
    Meine Verwandten tun so, als merkten sie nichts. Im Gegenteil: Sie loben Sarahs Appetit und Mutters Kuchen, sie kauen und krümeln wie glotzendes, wiederkäuendes Weidevieh. Ich möchte sie alle schlachten und spiele im Kopf Ego-Shooter; ich kann mir vorstellen, warum Menschen zu Amokläufern werden; ich hasse alle, ich hasse unsere Hilflosigkeit und ich hasse Sarah, weil sie Mama das gefragt hat und ich mir ihretwegen diese verlogene, herzzerreißende Scheiße ansehen muss.
    Die Krankenschwester und ein junger Arzt kommen herein und winken meinen Vater auf den Gang hinaus. Ich würde ihnen gerne folgen, aber das klappt nicht, denn gerade da ergreift wieder Oma Hilde meine Hand und krächzt wie eine zerzauste Krähe: »Ich wüsste so gern, was du Sarah schenkst. Kannst du's mir nicht verraten? Sagst es mir ins Ohr, ja?!«
    In das Ohr? In stachelige graue Haare, runzelige Haut und kubikmeterweise Ohrenschmalz? Sind eigentlich alle um mich herum Monster? Um nicht antworten zu müssen, schiebe ich mir ein großes Kuchenstück in den Mund. Es riecht nach Wundsalbe, Pipibeutelund Altfrauenparfüm, es schmeckt nach den Käfern, die ich mir vorgestellt habe, ihre trockenen Panzer krachen zwischen meinen Zähnen, ich ersticke.
    Sarah scheint's ähnlich zu gehen. Sie verzieht ihr Gesicht zu einer Fratze, keucht: »Entschuldigung«, beugt sich vor und kotzt. Sie kotzt ihnen vor die Füße, kotzt auf Schleifchen und Pappteller, kotzt Blut und Schokolade, unverdaute Nüsse und grauen Schleim.
    Raus, nichts wie raus! Ich werde verrückt, wenn ich hierbleibe.
    Ich fliehe von der Station, springe die Treppen hinunter, werde schneller und schneller, dann
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