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Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis
Autoren: James Sallis
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Karte von ihm, eine Ansichtspostkarte aus einem Ort in Kansas. Weizenfelder, eine Scheune, Windrad, ein uralter Laster. Er hatte einen rittlings auf dem Scheunendach sitzenden »Zauberer von Oz«-Blechmann gezeichnet und auf die Rückseite geschrieben: Wohin auch immer der Wind weht! Noch später, gegen Ende des Jahres, erhielt ich eine weitere. Eine schlichte Karte, ohne Ortsangabe, nur ein Foto von einem weißen Kaninchen, das vor dem Hintergrund eines schneebedeckten Berghangs fast unsichtbar war. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: Ich denke ernsthaft darüber nach, zurückzukommen, und es einmal unterstrichen. Nach Memphis? Zu den Sitzungen? Ins Leben? Ich erfuhr es nie.
    Wie sich herausstellte, gehörten das Gesicht am
Fenster und die Hand dazu Isaiah Stillman, der sich auf einem seiner seltenen Ausflüge in die Stadt befand. Und er schien sich dabei nicht sonderlich wohlzufühlen, dachte ich zunächst, andererseits glaube ich aber nicht, dass Isaiah sich jemals irgendwo unwohl gefühlt hat. Es war also etwas anderes.
    »Und?«, fragte ich.
    »Es muss.« Er lächelte. »Und selbst? Viel zu lange nicht gesehen, Sheriff.«
    »War höchste Zeit.« Ich gab ihm eine Sekunde, dann erzählte ich, was mit Billy passiert war und dass Lonnie zurück war.
    »Heißt also, Sie können den Job wieder abgeben.«
    »Genau.«
    »Vorausgesetzt, dass Sie den Job abgeben wollen.«
    Er setzte sich – nicht auf einen Stuhl, sondern auf die Kante von Don Lees Schreibtisch neben meinem. Er trug Jeans, hatte ein weißes Hemd hineingestopft, dazu die Textil-und-Gummi-Sandalen, die er ständig an den Füßen hatte, Sommer wie Winter und dazwischen auch.
    »Kommt der Junge wieder auf die Beine?«, fragte er. Isaiah war vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre älter als »der Junge«.
    »Wir müssen abwarten.«
    »Das müssen wir wohl immer, was?«

    »Und sonst? Was führt Sie in die Stadt?«
    »Ach, das Übliche. Mehl, Salz, Kaffee. Ein neues Rad für die Kutsche.«
    »Miss Kitty wird sich freuen, Sie zu sehen.«
    »Immer.«
    Isaiah und seine Gruppe hatten sich fast unbemerkt hier niedergelassen, waren in eine alte Jagdhütte oben in den Bergen eingezogen, ein paar Stunden außerhalb der Stadt, sie waren alle auf die eine oder andere Art Flüchtlinge, wie Isaiah gesagt hatte. Als ich ihn fragte, was es denn sei, vor dem sie flüchteten, lachte er nur und zitierte Marlon Brando in Der Wilde : »Was haben Sie denn zur Auswahl?« Ein paar einheimische Kids hatten sich volllaufen lassen und anschließend das Camp zerstört. Plünderung, Brandschatzung, Notzucht – ohne die Notzucht, wie Isaiah sich ausdrückte. Unter der Anführung von June hatte sich die Stadt aufgerappelt und ein neues Camp für die jungen Leute gebaut, eigentlich eine kleine Ansiedlung: zwei zehn Meter lange Hütten, einen Lagerschuppen, eine Versammlungshalle zum Kochen und Essen.
    »Hab vorhin June auf der Straße gesehen. Sie sieht gut aus.«
    Ich nickte.
    »Sie auch.«

    »Wissen Sie, Isaiah, ich glaube, Sie sind in etwas über drei Jahren kein einziges Mal in diesem Büro gewesen.«
    »Stimmt.«
    »Also, was kann ich für Sie tun?«
    Er setzte gerade zum Sprechen an, als jemand draußen auf die Sperrholzplatte schlug, einmal, zweimal, dann ein drittes Mal. Wir blickten beide zum Fenster, wo ein halber Kopf mit fast weißem Haar über der Fensterbank zu sehen war. Les Taylors Sohn Leon. Der gehörlose Junge hämmerte immerzu auf Wände, Autos, Baumstämme, Schultische, seinen Brustkorb. Weil die Schwingungen, vermuteten wir, für ihn das Einzige war, was er von dem Meer an Geräuschen mitbekam, in dem wir anderen alle schwammen.
    »Sie wissen«, sagte Isaiah, »dass es mir nicht leichtfällt, jemanden um Hilfe zu bitten.«
    War mir klar.
    »Damals, kurz nachdem wir hergekommen sind, hat einer von uns –«
    Es war erst wenige Jahre her; selbst mein alterndes, bereits leicht lädiertes Gedächtnis reichte dafür noch aus. »Kevin«, sagte ich. Der Junge war damals vom Jagdhund meines Nachbarn Nathan getötet worden. Das war die Gelegenheit, bei der wir überhaupt erst von der Kolonie erfuhren.

    Isaiah nickte. »Leuten wie Kevin ist es unmöglich, sich einzufügen. Sie lassen sich treiben, gehen, kommen wieder. Oder man steht eines Morgens auf, und sie sind ein für alle Mal verschwunden. Es ist nicht so, dass sie unbedingt unzufriedener sind, größere Probleme haben als die anderen. Es ist …« Er warf einen Blick zum Fenster, vor das Leon sich inzwischen auf
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