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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn
Autoren: Wulf Dorn
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vergessen.
    Kein Wunder, im Moment hatte sie wirklich andere Sorgen.

EPILOG
    Der Mann im blauen Sarong und dem ausgeblichenen T-Shirt mit dem Hard Rock Cafe -Aufdruck hieß Nyoman Suardana Yasa. Er lehnte hinter der Theke seiner Strandbar und beobachtete die zarte Gischt, die glitzernd mit dem weißen Sand von Padang Bai verschmolz. Über dem tiefblauen Indischen Ozean stand die Sonne bereits tief, dennoch musste Nyoman blinzeln, als er zu den Fischerbooten hinaussah.
    Als er noch ein Kind gewesen war, hatte er oft vom Meer geträumt. In diesen Träumen war er mit dem Fischerboot seines Vaters aufgebrochen, um die Welt kennenzulernen.
    Nun kam die Welt seit vielen Jahren zu ihm und zeigte ihm ihr Gesicht – im Fernsehen, im Internet und in Zeitschriften, und natürlich auch in Gestalt der Touristen –, und Nyoman hatte aufgehört, von ihr zu träumen. Nun war er froh, auf der Insel der Götter geboren zu sein und sie nie verlassen zu müssen.
    Bisher war es ein ruhiger Nachmittag gewesen. Die Hauptsaison war vorüber, und bald würde der Monsun einsetzen. Der Regen war längst überfällig, und man konnte sein Nahen deutlich spüren; jetzt, wo die Luft von Tag zu Tag drückender und schwüler wurde.
    Nyoman sah auf seine Armbanduhr. Es war fast halb fünf. Er nickte. Sein Zeitgefühl hatte ihn nicht getrogen.
    Er öffnete den Kühlschrank unter dem Welcome to Bali -Poster mit der Tempeltänzerin, goss ein Glas Wassermelonensaft
ein und stellte es auf die Theke. Dann trat er ins Freie hinaus und schaute den Strand entlang.
    Schließlich entdeckte er die schlanke Gestalt, die bereits auf ihn zukam, aber sie war noch weit genug entfernt. Bis sie bei ihm eingetroffen war, würde der Saft eine angenehme Trinktemperatur haben. Ebenso wie Nyoman selbst mochte die Frau ihr Getränk nicht eisgekühlt wie all die anderen Touristen. Diese Gemeinsamkeit hatten sie beide gleich bei ihrer ersten Begegnung festgestellt, und es war nicht die einzige, wie sie im weiteren Verlauf ihrer Bekanntschaft herausfanden.
    Seither kam sie täglich zu ihm. Es war wie ein Ritual. Jeden Tag um kurz nach halb fünf. Seit sechs Wochen. Und es gefiel ihm.
    Er steckte sich eine Kretek an, inhalierte den Nelkenrauch und betrachtete die Frau, die mit jedem ihrer Schritte auf ihn zu ein kleines Stück zu wachsen schien.
    Als sie ihn erkannte, winkte sie ihm zu. Ihr rotes Haar und das bunte Strandkleid schienen in der Nachmittagsbrise um die Wette zu wehen. Aus Nyomans Perspektive sah sie aus wie ein erleuchtetes Wesen. Wie jemand, der nach langem Weg die Gnade der Götter empfangen hat , dachte er und winkte lächelnd zurück.
    Mit jedem Tag schien ihr Gang aufrechter und selbstsicherer zu werden. Kein Vergleich zu ihrer ersten Begegnung. Es musste ihr sehr schlechtgegangen sein, das hatte man ihr deutlich angemerkt, auch wenn sie nie viel miteinander gesprochen hatten. Aber es gab ohnehin Dinge, die man ohne Worte viel besser ausdrücken konnte.
    Deshalb schätzte er ihre Schweigsamkeit sehr. Die meisten Menschen – und vor allem die Touristen – redeten zu viel. So viel, dass ihnen die kleinen Wunder des Alltags entgingen, mit denen die Götter die Menschen beschenkten.

    Doch nicht so diese stille Frau. Auch sie mochte anfangs noch blind für die kleinen Wunder gewesen sein, aber irgendwann in den letzten Wochen musste sie sie dann entdeckt haben. Seither war die unsichtbare Last, die sie anfangs noch zu erdrücken gedroht hatte, immer mehr von ihren Schultern geglitten, und irgendwann war auch der letzte Rest davon vom Ozean weggeschwemmt worden.
    »Selamat sore«, sagte sie, als sie bei ihm angekommen war, und er erwiderte ihren Gruß.
    Sie setzte sich auf einen der Plastikhocker an der Theke und betrachtete das Glas, auf dem sich Wasserperlen gebildet hatten.
    »Heute ist das letzte Mal, dass ich vorbeikomme, Nyoman. « Sie klang ein wenig wehmütig. »Morgen fliege ich zurück.«
    Er drückte seine Zigarette im Sand aus und setzte sich neben sie. Während sie trank, sahen beide aufs Meer hinaus.
    »Das habe ich mir schon fast gedacht«, sagte er. »Ich konnte es an deinem Gang sehen. Du freust dich auf zu Hause, ja?«
    Sie nickte. »Noch vor zwei Wochen hätte ich es mir nicht vorstellen können, vielleicht noch nicht einmal vor einer, aber jetzt … Ja, ich freue mich. Vor allem freue ich mich darauf, Jan wiederzusehen.«
    Sie zeigte auf den Strand und das Meer. »Ihm habe ich das alles zu verdanken. Ohne seine Hilfe wäre ich jetzt nicht
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