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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn
Autoren: Wulf Dorn
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Wetterdienst hatte für diese Woche anhaltenden Regen angekündigt und Recht behalten. Dicke Tropfen hämmerten gegen die Fensterscheibe und rannen tränengleich über das Glas. Ein starker Ostwind trieb schwarze Wolken über den Abendhimmel und wirbelte das Herbstlaub durch den Park der Waldklinik. Es war, als würde die Natur noch einmal gegen das nahende Ende des Jahres aufbegehren, ehe ihr der Winter das Leben raubte.
    Hinter den meisten Fenstern der umliegenden Stationsgebäude brannte Licht, nur die ehemalige Direktorenvilla lag gänzlich im Dunkeln. Dort, wo sich einst deren Garten befunden hatte, standen nun mehrere Baucontainer, Paletten mit Gerüstteilen und zwei Plastiktoiletten.
    Bald würde man mit den Umbauarbeiten beginnen, und eine neue Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie würde entstehen. Ein Projekt, für das sich Jan in den letzten Monaten starkgemacht hatte und das nun endlich umgesetzt werden sollte. Es war ein mühsamer Weg durch den Bürokratiedschungel der Behörden gewesen, und Jan hatte kaum glauben können, wer alles hierzu seine Zustimmung
geben musste, doch letztlich hatten er und das Projektteam sämtliche Hürden gemeistert, worauf sie zu Recht stolz waren.
    Jan sah eine gebeugte Gestalt, die im schwachen Schein der Parkleuchten durch den Regen eilte und dann um eine Wegbiegung verschwand. Gleich darauf fuhr ein Lieferwagen in Richtung der Pforte davon. Seine Scheinwerfer erhellten den Regen, der auf dem Asphalt tanzte.
    Jan ließ den Rest des Brötchens im Papierkorb verschwinden und widmete sich dem Bericht über seine letzte Patientin. Eine verschüchterte Siebzehnjährige, die von einer Gruppe anderer Mädchen gezwungen worden war, sich einen Hundehaufen im Gesicht zu verreiben. Kurze Zeit später war das Handyvideo auf You Tube erschienen und hatte etliche »Mag ich«-Klicks erhalten, woraufhin sich das Mädchen die Pulsadern aufgeschnitten hatte.
    Es klopfte, und Schwester Bettina streckte den Kopf zur Tür herein. Mit ihren einundzwanzig Jahren war sie kaum älter als Jans Patientin, doch er war überzeugt, dass diese Mädchen bei ihr keine Chance gehabt hätten. Die junge Frau mit dem Nasenpiercing und dem Punk’s not dead -T-Shirt unter ihrem Schwesternkittel hätte die Gruppe sicherlich aufgemischt. Zwar wirkte sie trotz ihrer Größe schlank und zerbrechlich, aber hin und wieder konnte man ein Funkeln in ihrem Blick sehen, das zu verstehen gab, dass man sie besser nicht unterschätzen sollte.
    »Entschuldigung, Dr. Forstner. Störe ich?«
    »Was gibt es denn?«
    »Eine Überraschung.« Die Schwester lächelte verschwörerisch, dann öffnete sie die Tür vollends und trat mit einem großen Rosenstrauß ein. »Die sind für Sie.«
    »Für mich?«

    Bettina nickte, woraufhin ihr eine blondierte Strähne ins Gesicht fiel, die sie mit einer kessen Kopfbewegung wegblies. »Ja, sind gerade abgegeben worden. Toll, was? Das sind Baccara-Rosen.«
    Verblüfft starrte Jan auf den Strauß, dann erinnerte er sich an den Lieferwagen und nahm die Blumen entgegen.
    Carla war immer wieder für eine Überraschung gut, sei es nun ein Kerzenmeer im Wohnzimmer zum Geburtstag oder ein spontanes Picknick am Waldrand als Einstand für ein verlängertes Wochenende. Allerdings hätte er nach den letzten Wochen nicht mit einem solchen Zeichen gerechnet. Für diesen Rosengruß musste sie ein kleines Vermögen ausgegeben haben.
    »Frau Weller ist wohl noch immer unterwegs?«
    »Ja, aber in ein paar Tagen ist sie wieder zurück.«
    Jan betrachtete den Strauß. Er vermisste Carla mehr, als er sich eingestehen wollte. Vor allem jetzt.
    »Sagen Sie …« Bettina hüstelte. »Dürfte ich Sie um einen Gefallen bitten?«
    Sie wirkte etwas verlegen, und Jan hätte nie gedacht, dass die sonst so selbstbewusste junge Frau rot werden könne. Aber als sie nun die andere Hand hinter dem Rücken hervorzog, wirkte sie wie ein schüchternes kleines Mädchen.
    »Glauben Sie, Frau Weller würde es mir signieren, wenn sie wieder da ist? Und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Sie vielleicht auch, Herr Doktor?«
    Sie hielt Jan das Buch entgegen. Jan nahm es und betrachtete den vertrauten weißen Schutzumschlag mit dem schwarzen Titelschriftzug
     
    KALTE STILLE
    VON CARLA WELLER

     
     
    Der Untertitel lautete
     
    DIE AUFDECKUNG EINES PSYCHIATRIESKANDALS
     
    Dieses Buch hatte vieles in Jans Leben verändert. Carla berichtete darin über seine Geschichte, über das Verschwinden seines Bruders Sven im Januar 1985 und
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