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Dunkler Wahn

Dunkler Wahn

Titel: Dunkler Wahn
Autoren: Wulf Dorn
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der Wachbeamte Jan einen Bleistift.
    »Wie geht es dir, Junge?«, fragte Marenburg.
    »Ich will es nur einfach hinter mich bringen.«
    Jan ging zurück in das Zimmer und schloss die Tür. Jana hatte sich an den kleinen Tisch neben der Wand gesetzt und das Tablett mit ihrem unberührten Mittagessen beiseitegeschoben.
    Sonnenlicht fiel in den Raum und erhellte sie wie ein überirdisches Geschöpf. Von den Bäumen vor dem Fenster fielen die letzten Regentropfen vom Vortag herab.
    »Also gut, Jana. Schreib mir auf, wo Carla ist. Das schuldest du mir.«
    In ihren Augen glitzerten Tränen, als sie nickte. Jan reichte ihr Block und Stift, doch stattdessen packte sie mit beiden Händen seine Hand.
    Er fuhr erschrocken zusammen und wollte sich aus ihrem Griff befreien, als ihm klarwurde, dass es kein Angriff sein sollte. Im Gegenteil, während sie seine Hand festhielt, strich sie mit der anderen zärtlich über seinen Arm und sah tränenverschmiert zu ihm auf.
    Was würdest du tun, wenn alle Welt behauptet, dass du nicht der bist, der du zu sein glaubst , schien dieser Blick zu sagen. Was bliebe dir für eine Wahl?
    Seine Hand glitt aus ihrer Umklammerung. Er deutete auf den Block.
    »Bitte, Jana, verrate mir, wo sie ist.«
    Sie lächelte ihn wieder an. Diesmal war es ein warmes, herzliches Lächeln, das Jan mehr erschreckte als jeder ihrer früheren boshaften Blicke. Vielleicht lag es daran,
dass er nun doch ein schmerzhaftes Mitgefühl mit ihr empfand.
    Sie beugte sich nach vorn und schrieb etwas auf den Block, wobei sie das Geschriebene mit der Hand beschirmte. Jan musste an ein Schulmädchen denken, das verhindern wollte, dass man bei ihr abschrieb. Als sie fertig war, hielt sie weiterhin die Hand davor, während sie den Text nachdenklich betrachtete.
    Jans Schenkelwunde brannte nun wie Feuer, und er spürte, wie ihm kalte Schweißperlen auf die Stirn traten.
    Jana hob den Kopf, lächelte schwach und riss den Zettel aus dem Block. Wie hypnotisiert starrte Jan auf ihre Hände, während sie das Papier faltete. Ruhig und entschlossen.
    Er fürchtete sich davor, diesen Zettel entgegenzunehmen. Etwas tief in ihm schrie, dass er es verflucht nochmal nicht wissen wollte. Nicht, wenn Carla tot war. Nicht, wenn ihn diese Notiz nur zu ihrer Leiche führen würde.
    Zögerlich hob Jana die Hand und hielt ihm das gefaltete Papier entgegen. Jan wollte es nehmen, doch im ersten Moment gehorchte ihm sein Arm nicht. Er hing weiterhin schlaff herab, als wolle er seinem Besitzer mitteilen, dass auch er nicht wissen wollte, was auf dem Papier stand. Doch schließlich gelang es Jan, den Arm zu bewegen. Wie in Zeitlupe griff seine zitternde, schweißnasse Hand nach dem Zettel, wobei Jana ihn auf rätselhafte Weise taxierte.
    Nimm ihn, oder nimm ihn nicht, schien sie damit zu sagen. Es liegt jetzt ganz bei dir.
    Er musste ein wenig an dem Zettel ziehen, ehe sie losließ. Jana machte jedoch keine Anstalten, Jan noch einmal zu berühren. Stattdessen sah sie ihm weiter ins Gesicht,
als er den Zettel entfaltete und las, was sie ihm in ihren vertraut kindlichen Großbuchstaben aufgeschrieben hatte.
    Im ersten Augenblick war Jan außerstande, das Geschriebene zu erfassen. Es war ein Satz, der für ihn keinen Sinn ergeben wollte. Doch dann verstand er.
    Er zuckte, als habe man ihm einen elektrischen Schlag versetzt. Diese Botschaft war schrecklicher als alles, was er erwartet hatte, und dennoch hätte er darauf gefasst sein müssen. Was er las, war von einer unbeschreiblich grausamen Logik – der Logik einer Wahnsinnigen, die nun die Konsequenz aus einer Entscheidung zog, die Jan selbst erst vor wenigen Sekunden getroffen hatte. Genau in dem Moment, als er darauf bestanden hatte, dass sie den Zettel losließ.
    Sein Herz raste, und sein Verstand schien in einer Endlosschleife um den Satz zu rotieren, mit dem ihn Franco vor nicht allzu langer Zeit zu warnen versucht hatte.
    Wer mit dem Teufel essen will, braucht einen langen Löffel.
    Nun stand fest, dass Jans Löffel nicht lang genug gewesen war.
    »O Gott«, stieß er hervor. »Natürlich … ich … du verdammtes …«
    Er sah in ihr lächelndes Gesicht und begriff im selben Augenblick den gesamten Umfang ihres Plans.
    »Nein!«
    Er wollte nach vorn schnellen und sie davon abhalten, aber vor Schreck und Verwirrung war er wie erstarrt – und keinen Lidschlag später war es bereits zu spät.
    Es geschah innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde, und dennoch war es, als habe sich die Zeit für Jan zur
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