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Dunkler Schnee (German Edition)

Dunkler Schnee (German Edition)

Titel: Dunkler Schnee (German Edition)
Autoren: Barbara Klein
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wären ihre Ohren von einem dicken Mullverband bedeckt. Wie durch Wände verstand sie, dass man sie vorsichtshalber am nächsten Morgen operieren würde, um Rückstände aus der Gebärmutter zu entfernen. Rückstände? Wovon? Von Liebe? Von Leben? Man verfrachtete sie in ein Krankenzimmer, wo sie sich waschen und mit einem Krankenhemd bekleiden konnte. Eine Greisin im Nebenbett schnarchte laut. Marisa legte sich hin, die Bettwäsche knisterte. Sie fühlte die warme Hand ihrer Mutter an der Wange, hörte leise, tröstende Worte, hörte, wie die Mutter sich entfernte, hörte die Nachtschwester, die einen mageren Trost versuchte, indem sie bemerkte, sie könne immer noch Kinder bekommen, sie sei ja noch jung, nahm ohne Protest die Tablette, die ihr gereicht wurde, ohne zu fragen, wofür oder wogegen sie war, schloss die Augen und bat im Stillen um einen freien Wunsch. Doch keine Fee erbarmte sich, kein Flaschengeist tat seine Wunder, kein Volker tröstete sie, keine Hand wischte ihre Tränen fort, die unablässig hervorquollen, und niemand lieferte ihr eine Erklärung für ihr verpfuschtes Dasein.

    Sie fühlte sich leer, zerstört und nutzlos. Aus Gewohnheit legte sie in der ersten Zeit nach der Fehlgeburt immer noch die Hand wie zum Schutz auf ihren Bauch, aber wenn sie sich dabei ertappte, schossen die Tränen in die Augen, und sie ärgerte sich noch zusätzlich über diese Sentimentalität.
    „Ich bin ungewollt schwanger geworden und jetzt habe ich das Kind ungewollt verloren – das ist der Ausgleich!“, sagte sie zu Yvonne am Telefon. Die Einladung nach Aachen lehnte Marisa ab. Ihr war nicht nach Freundin zumute, ihr war nach Alleinsein.
    „Mach nicht den Fehler und verkriech dich in deiner Wohnung“, meinte Yvonne.
    „Was weißt du denn schon, was gut für mich ist?“, antwortete Marisa mit Schärfe in der Stimme.
    „Ich mein’s doch nur gut, reg dich ab.“
    „Du hast doch keine Ahnung, wie ich mich fühle! Oder hast du vielleicht schon mal eine Fehlgeburt gehabt?“
    „Du bist noch durcheinander, das ist normal. Ich nehm es dir nicht übel.“
    „Oh, wie gnädig!“, gab Marisa zynisch zur Antwort, merkte aber, dass sie sich nicht in der Gewalt hatte. „Ich leg jetzt auf, ich kann nicht … plaudern. Wir vertagen uns.“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, drückte sie auf Aus.
    Viele Tage überlegte sie, ob es sich lohne, aus ihrem Loch wieder hervorzukriechen.
    Zuerst nahm sie die Einladung zum Stadtbummel mit ihrer Mutter an und begann sich dabei wieder wie ein Mensch zu fühlen. Das bunte Treiben in der Stadt peppte ihre Gedanken auf. Begegnete sie jemandem mit Kinderwagen, blickte sie allerdings sofort zur Seite. Eigentlich wollte ich gar kein Kind, redete sie sich dann ein.
    Dann beschloss sie an jenem Abend, als sie wieder daheim war, spontan, die nächsten Wochen in Kanada zu verbringen und suchte die Nummer ihres früheren Vermieters Adam heraus …

32. Nova Scotia – Am Leuchtturm
    Marisa tastet sich mit steifen Gliedern über die vereisten Felsen, rutscht immer wieder aus, muss mehrmals die Richtung ändern, weil es kein Weiterkommen gibt durch die vielen Spalten und hohen Felsen, die sie nicht erklimmen kann. Drohend hört sie von links das Grollen des Meeres. Sie sieht keinen Lichtschimmer, nur Dunkelheit. Eigentlich müsste ich doch den Leuchtturm sehen, redet sie sich selber Mut zu. Sie weiß, dass es nicht mehr weit sein kann. Hoffentlich ist es noch nicht zu spät! Sie schlägt sich das Knie an, rutscht auf allen Vieren einen guten Meter hinunter, schlägt noch einmal mit dem Knie an, fühlt ihre Kleidung durchnässt und bemerkt obendrein, dass der Schneefall dichter wird. Plötzlich schießt wenige Meter neben ihr eine Wasserfontäne hoch! Sie erschreckt und erkennt, dass sie viel zu nah an die Wasserlinie gekommen ist; sie will nicht zu den zahlreichen Opfern gehören, die jedes Jahr in Peggy’s Cove über die Felsen ins Meer gezogen werden, weil sie zu leichtsinnig sind. Die meisten werden gerettet – doch wer sollte sie, Marisa Demmer, bei dieser Witterung und diesen Lichtverhältnissen retten? Dämliche, blöde Kuh, schimpft sie sich in Gedanken und schiebt sich weiter über die Steine, was machst du nur? Doch trotz der Gefahr, trotz der Wut, die tief im Inneren brodelt, fühlt sie eine Lebendigkeit wie eine wärmende Flamme in sich lodern – ein merkwürdig gutes Gefühl. Das erste Mal, dass sie so etwas fühlt, seit sie das Krankenhaus verlassen hat. Sie rutscht, klettert,
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