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Dunkle Materie

Dunkle Materie

Titel: Dunkle Materie
Autoren: Aner Shalev
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mit dem Baby, schienen aus einer anderen Welt zu sein. Auch wenn er sie auf die eine Waagschale legen würde und Eva auf die andere, auch wenn er tausend derartige Ereignisse auf die Waagschale legen würde, war es klar, welche schwerer wiegen würde, und plötzlich schienen die Verwirrungen und die Unannehmlichkeit, die sie ihm verursacht hatten, übertrieben und unwirklich, die einzige Wirklichkeit war, dass sie in zehn Stunden zusammen sein würden, und alles andere, sogar die Notwendigkeit zu lügen, verblasste dagegen. Als er das Hotel erreichte, beschloss er, Selbstsicherheit zu demonstrieren, er mietete das Zimmer unter seinem richtigen Namen und bezahlte für die ganze Woche in bar, und als er die mit grünem Teppich bedeckten Stufen zu ihrem Zimmer hinaufstieg, dem Zimmer, das für eine ganze Woche ihre Wohnung sein sollte, kam ihm die Nähe des Washington Square sogar als enormer Vorteil vor, schließlich hatte er nicht wirklich gelogen, Washington, Washington Square, sprachlich gesehen war das kein großer Unterschied.
    Er warf sich auf das Bett, das zu weich und zu schmal war, aber auch das spielte keine Rolle, die Vorstellung, Tourist in der Stadt zu sein, in der er schon seit Jahren lebte, in das Hotel einzuchecken, es sich auf dem Bett bequem zu machen, einen Kofferzu öffnen, der nur vier Kilometer von hier entfernt gepackt worden war, bereitete ihm plötzlich Vergnügen, und als er versuchte, sich klarzumachen, warum es ihm so viel Vergnügen bereitete, New York blieb schließlich New York, verstand er es. Es war die Tatsache, dass niemand wusste, dass er da war, die wichtiger war als alles andere, eine heimliche Anwesenheit in New York war einer offenen Anwesenheit vorzuziehen, so wie das Verborgene immer dem Offenen vorzuziehen ist.
    Er fing an, über den Begriff Geheimnis nachzudenken, etwas, was ihn schon in der Zeit mit Tanja beschäftigt hatte, und nun, da er Eva getroffen hatte, war das Geheimnis das Zentrum seines Lebens geworden, denn niemand wusste etwas von ihr und von den Mails, die sie ihm täglich schickte, von seinen Mails an sie, obwohl das zum zentralen Punkt seines Alltags geworden war. Die Tatsache, dass niemand etwas davon wusste, verlieh dieser Beziehung etwas Reines, Abstraktes, fast Göttliches, als würde ihr Wert sinken, wenn mehr Menschen von ihr wüssten. Deshalb waren doch die in Zeitungen veröffentlichten Nachrichten so wenig wert, weil sie für alle zugänglich waren, deshalb waren sie schmutzig und verächtlich, und er sagte sich, im Gegensatz zur üblichen Auffassung, ein Geheimnis als etwas Schmutziges zu betrachten, dessen man sich schämen sollte, sei es in Wahrheit doch genau umgekehrt. Es gibt nichts Reineres als ein Geheimnis, es gibt uns die Individualität zurück in einer Welt, in der sich zu viele Informationen zu schnell und kritiklos verbreiten und jede Intimität sich zu einem Foto in der Abendzeitung oder zu einer öffentlichen Beichte in Jerry Springers Sendung verwandelt. Ohne Geheimnisse, dachte er, lohnt sich die Welt nicht, wenn er sich nicht irrte, hatten das schon die alten Weisen behauptet, den Segen findet man nur in den Dingen, die dem Auge verborgen sind.
    Er erinnerte sich an die Mail, die Eva ihm erst vor drei Tagen geschickt hatte, über die neuesten Erkenntnisse der Astrophysik,dass die meiste Materie im Universum eine dunkle Materie sei und die meiste Energie im Universum eine dunkle Energie. Er verstand zwar nicht genau, was damit gemeint war, Astrophysik war nicht sein Bereich und vielleicht sollte er Eva um zusätzliche Erklärungen bitten, trotzdem schienen ihm diese Entdeckungen spannend zu sein, denn wenn alles offengelegt ist, wenn alles beleuchtet ist, wird uns nichts vor der Langeweile der Gewissheit retten. Die Welt gründet auf Geheimnissen, nur die Geheimnisse geben ihr ein Existenzrecht, und er dachte, falls ihm und Eva in dieser Woche in New York etwas passieren sollte, würde nie jemand etwas von ihrem Verhältnis erfahren, und so sollte es sein, doch dann fiel ihm ein, dass Eva mehreren Leuten von ihm erzählt hatte, sogar Sascha, obwohl sie ihm versprochen hatte, es nicht zu tun.
    Bis zu Evas Ankunft blieben ihm noch neun Stunden, er ging in das Badezimmer, normalerweise duschte er nur, aber nun verspürte er das Bedürfnis, fast ein Verlangen, ein Bad zu nehmen, sich gründlich zu reinigen, langsam, keinen Zentimeter seines Körpers
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