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Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)

Titel: Du graue Stadt am Meer: Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert. Biographie (German Edition)
Autoren: Jochen Missfeldt
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von der äußeren Welt mehr abgezogen, bald nachdem kamen wir zu Euch. Lange schon konnte sie mich drei, ja vier mal um eine Sache fragen, und dann diese ängstlichen Ideen und das Mißtrauen. Zum Weihnachten stickte sie Vater noch recht schwierige Schuhe. Weihnachtsabend kaufte sie für mich noch Geschenke den Sonntag war es ganz vorbei. Die Gedanken schweiften aus, der Tiefsinn, die Angst vor dem Wahnsinn stellte sich ein, wenn sie las, sie nahm ein Buch nach dem andern, bis sie aufgethürmt um sie herum lagen, verwirrten sich die Gedanken. So kam sie zu dem verzweiflungsvollen Resultat über sich selbst, daß sie verrückt werde und sprach dies auch in den herzzerreißendsten Tönen aus.
O dieser Jammer und nicht helfen zu können, Gott bewahre alle gute Menschen davor, er ist grenzenlos …
    Ich habe keine Tochter mehr, die letzte ist geistig todt , schreibt Lucie im März 1858 an Schwiegertochter Constanze nach Heiligenstadt. Sie gedenkt ihrer beiden verstorbenen Töchter Lucie und Helene. Angesichts dieses Schicksals ruft sie sich selber zu: Nun nicht mehr klagen. Muth, Muth, ich will ihn mir beweisen.
    Die Briefe, die Lucie von Husum an Sohn Theodor, Schwiegertochter Constanze und deren Kinder schrieb, bezeugen nicht nur ihr mitleidendes, fürsorgliches Denken und Empfinden, ihre Erzählkraft und das Erzähltalent, sondern sind Dokumente einer Frau mit großem Herzen, die bewegenden Anteil nimmt am Schicksal ihrer Kinder. Könnten wir uns nur einmal in der Woche sehen , wünscht sie sich ebenso wie Sohn Theodor, um dessen beständige Schwäche sie in Sorge lebt. Ihren Ehemann, Johann Casimir, vergisst sie bei alledem nicht, sein Gemüth leidet freilich in dieser trüben gespannten Zeit , schreibt sie, nachdem das Schicksal Tochter Cäcilie so unerbittlich aus der Bahn geworfen hat. Sie registriert aber auch seinen schönen gesunden Schlaf , erfreut sich an dessen ruhigen Athemzügen und wünscht: Gott erhalte ihn noch lange, lange nach mir. Sie selber kämpft immer wieder mit der anfälligen eigenen Gesundheit, die will nicht stand halten und vergällt mir die Freude des Zusammenlebens. Mutter Lucies vorbildliches Lebensprogramm heißt: nicht unterkriegen lassen, nicht verzagen, tapfer bleiben.

Kindheit und Verklärung
    Storm sieht das Familienleben der Kinderzeit aus der Distanz von fünfundvierzig Jahren: Großvater und der alte Clausen in ihren Comptoiren, drei Mägde in Küch’ und Keller und Kinderstube, auf dem Hof oder im Stall der Kutscher mit zwei fetten Rappen, im Hause Großmutter und Mutter wirtschaftend; wir Kinder, Schwestern – wo sind sie geblieben? – und Brüder, überall auf Treppen und in Stuben, in Garten und Hof, in den Bäumen, mitunter auch auf den Dächern . Als er dieses schrieb – Mutter Lucie war 1879 gestorben, Vater Johann Casimir 1874 –, so geht sein Brief weiter, überfiel ihn ein vernichtendes Gefühl der Vergänglichkeit.
    Eine ergreifende Erinnerung, die den Verlust von Eltern, Kindheit und Jugend beklagt. Wenn auch Storm hier angesichts des eigenen Familienschicksals, das nach dem Tod seiner ersten Frau Constanze (1865) härter und härter zupackte, möglicherweise verklärend und beschönigend auf die Kinderzeit zurückblickt, so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass Johann Casimirs Haus und Hof, Stall und Garten voller Leben und Unterhaltung, Spannung, Spaß und Spiel gewesen sind.
    Das Familienleben in Storms Elternhaus war Großfamilienleben. Drei Generationen und die Kanzlei unter einem Dach, reichlich Gesinde, der Schreiber in seiner Schreibstube, der Kutscher mit den Pferden in Hof und Stall. Verwandtschaft und Freunde waren in der Nähe. Man lief sich über den Weg, man suchte und fand sich, man saß beisammen und aß und trank, und Johann Casimir erzählte ab neun Uhr abends aus der Kindheit in Westermühlen, von Schwester Gretchen (1792–1866), die als Ältere über ihn wachte und ihn liebte. Die Erzählungen des Vaters haben Sohn Theodor offensichtlich beeindruckt. In so einem Familienbetrieb kann das Kind sich die Streicheleinheiten nebenbei holen, das Angebot ist groß, die Gelegenheiten sind günstig.
    Theodor wird neugierig gelauscht haben, wenn erzählt oder musiziert wurde. Er wird selber gesungen und das Klavier ausprobiert haben. Die musikalische Begabung war neben seiner sprachlichen das zweite große Pfund, mit dem er wuchern konnte. Er wird Angst vor dem Allein- und Einsamsein gehabt haben. Er wird Geborgenheit in menschlicher Nähe
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