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Du bist in meiner Hand

Du bist in meiner Hand

Titel: Du bist in meiner Hand
Autoren: Corban Addison
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Telefon in ihrer Hand. Mit tauben Fingern tippte sie erneut die vertrauten Zahlen ein.
    »Wir müssen nach St. Mary’s«, erklärte sie. »Schwester Naomi wird wissen, was zu tun ist.«
    »Aber wie sollen wir dorthin kommen?«, fragte Sita ängstlich. »Es ist niemand da, der uns fahren kann.«
    Ahalya schloss die Augen und lauschte dem Läuten des Telefons. Schwester Naomi hob ab. Besorgt fragte sie, was denn passiert sei und ob sie sich in Gefahr befänden. Als Ahalya ihr antwortete, schien ihre Stimme aus weiter Ferne zu kommen. Eine Welle habe sie überrollt, erklärte sie. Ihre Familie sei tot. Sie und Sita hätten überlebt, aber ihr Zuhause sei völlig zerstört.
    Ein paar lange Sekunden war in der Leitung nur Rauschen zu hören, dann fand Schwester Naomi ihre Stimme wieder. Sie wies Ahalya an, zur Straße zu gehen und sich von einem Nachbarn nach Chennai mitnehmen zu lassen.
    »Steigt nur bei jemandem ein, dem ihr vertraut«, mahnte sie. »Wir erwarten euch.«
    Nachdem Ahalya das Gespräch beendet hatte, wandte sie sich an Sita. »Wir müssen jemanden mit einem Wagen finden. Komm, wir brauchen etwas Trockenes zum Anziehen.«
    Sie führte ihre Schwester zu einer Kommode hinüber, half ihr, die nassen, schmutzigen Sachen auszuziehen, und reichte ihr einen sauberen Churidar. Sie selbst zog sich ebenfalls um. Anschließend trat sie in der Hoffnung, sich das Gesicht waschen zu können, ans Waschbecken, doch es kam kein Wasser. Sie würden sich erst waschen können, wenn sie St. Mary’s erreichten.
    Sita war schon auf dem Weg zur Tür, doch Ahalya hielt noch einmal inne, um ein Foto vom Schreibtisch zu holen. Es zeigte die Familie Ghai an Weihnachten vor einem Jahr. Sie löste das Foto aus seinem Rahmen und schob es unter den Bund ihres Churidars. Dann griff sie nach einem kleinen Holzkästchen und steckte es zusammen mit ihrem Handy in einen Stoffbeutel. In dem Kästchen befand sich der Goldschmuck, den die beiden Schwestern im Lauf der Jahre geschenkt bekommen hatten. Ahalya warf einen letzten Blick in den Raum und nickte ihm zum Abschied zu. Alles andere würde sie zurücklassen.
    Die Schwestern gingen die Treppe hinunter und wateten durch die Diele hinaus in den Vorhof. Draußen brannte die Sonne vom Himmel. Das stehende Wasser, das die zweite Welle hinterlassen hatte, roch bereits nach totem Fisch. Ahalya führte Sita um die Rückseite des halb zerstörten Hauses, hinaus auf die Straße. Die zwei Autos der Familie, die vor der Flut in der Zufahrt gestanden hatten, waren nirgendwo zu sehen. Ahalya überlegte, ob sie einen letzten Blick auf das Haus werfen sollte, widerstand jedoch der Versuchung. Die zerstörte Welt um sie war nicht mehr das Zuhause, das sie gekannt hatten. Ihre frühere Welt gab es jetzt nur noch in ihrer Erinnerung.
    Als sie die Hauptstraße erreichten, sahen sie, dass sie über und über mit dem angeschwemmten Holz aus dem Palmenhain übersät war. Ahalya spürte einen Anflug von Panik. Wer würde sich unter solchen Bedingungen auf die Straße wagen? Aber dann fiel ihr ein, dass sie vielleicht jemand aus dem Fischerdorf mitnehmen konnte. Sie wusste, dass ihre Chancen nicht gut standen. Die meisten Dorfbewohner lebten in Strandhütten, die von den Wellen vermutlich völlig zerstört worden waren. Trotzdem würden diejenigen, die überlebt hatten, Lebensmittel und Hilfe aus Chennai brauchen. Früher oder später musste sich jemand aus dem Dorf auf den Weg dorthin machen.
    Schweigend gingen die Schwestern Seite an Seite dahin. Sie legten fast anderthalb Kilometer zurück, ohne irgendein Anzeichen von Leben zu entdecken. Die ganze Bodenvegetation war weggespült, sodass die Erde zu beiden Seiten des Asphalts nackt und trostlos wirkte. Als die beiden Mädchen schließlich den Rand des Fischerdorfs erreichten, schwitzten sie bereits heftig und hatten großen Durst. Selbst im Winter brannte die südindische Sonne gnadenlos vom Himmel.
    Ahalya führte ihre Schwester die Straße entlang, die zum Meer hinunter verlief. Als sie sich dem Strand näherten, sahen sie einen Mann in einem schlammverschmierten weißen Hemd – einem Lungi – auf sich zukommen. In seinen Armen hielt er ein Kind. Hinter dem Mann folgte eine traurige Prozession weiterer Fischer, von denen die meisten Palmkörbe auf dem Kopf und bunte Säcke auf den Schultern trugen.
    Der Mann blieb vor Ahalya stehen. »Vanakkam«, grüßte sie auf die übliche Weise. »Wohin geht ihr?«
    Der Mann war so aufgelöst, dass er ihre Frage gar
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