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Du bist in meiner Hand

Du bist in meiner Hand

Titel: Du bist in meiner Hand
Autoren: Corban Addison
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Chennai und etwa anderthalb Kilometer von einem der zahlreichen Fischerdörfer entlang der Küste Tamil Nadus entfernt. Nach indischen Maßstäben handelte es sich um eine ländliche Gegend, und Ambini, die in dicht besiedelten Vierteln von Mylapore groß geworden war, empfand sie als abgelegen. Trotzdem nahm sie das Opfer, so weit weg von der Stadt zu leben, gern in Kauf, wenn ihre Kinder dafür so nahe an der Heimat ihrer Vorfahren aufwuchsen.
    Ahalya wanderte den Strand entlang, während Sita auf der Suche nach Muscheln direkt am Rand des Wassers dahinlief. Naresh und Ambini folgten ihnen in einvernehmlichem Schweigen. Die Ghais spazierten nach Norden, in Richtung Fischerdorf. Dabei trafen sie nur auf ein älteres Paar, das still im Sand saß, und zwei Jungen, die mit Kieselsteinen nach den Vögeln warfen. Ansonsten war der Strand menschenleer.
    Kurz vor neun fiel Ahalya etwas Seltsames auf: Die Wellen, die vom Wind an den Strand geworfen wurden, klatschten nicht mehr so weit über den Sand wie noch ein paar Minuten zuvor. Während das Mädchen die leichte Brandung beobachtete, schien das Meer vor ihren Augen zurückzuweichen. Schon bald lagen etwa fünfzehn Meter nasser Sand frei. Die beiden Jungen lieferten sich ein Wettrennen über die schlammige Fläche und jauchzten vor Vergnügen, als sie dem entschwindenden Ozean nachjagten. Während Ahalya das Schauspiel mit einem unguten Gefühl beobachtete, wirkte Sita eher neugierig.
    »Idhar kya ho raha hai?«, verfiel sie zurück in ihre Muttersprache Hindi. »Was ist da los?«
    »Das weiß ich auch nicht so genau«, antwortete Ahalya auf Englisch.
    Ahalya sah die Welle als Erste. Erschrocken deutete sie auf eine schmale weiße Linie am Horizont. In weniger als zehn Sekunden wurde die Linie breiter und entpuppte sich als hohe, herandonnernde Flutwelle. Sie kam so schnell näher, dass den Ghais kaum Zeit zum Reagieren blieb. Naresh winkte und rief, doch seine Worte wurden vom hungrigen Donner der Welle verschluckt.
    Ahalya griff nach Sitas Hand und zerrte ihre Schwester auf eine Gruppe von Palmen zu, wobei sie im weichen Sand nur mühsam vorankam. Für einen Moment wirbelte brackiges Wasser um ihre Beine, dann war die Welle da und trug sie hoch. Ahalya überschlug sich. Salzwasser strömte ihr in die Nase, verstopfte ihr die Ohren und brannte in ihren Augen. Während sie zum Licht emporstrebte, hatte sie das Gefühl zu ersticken. Einen Augenblick später durchbrach sie die Wasseroberfläche und schnappte keuchend nach Luft.
    Sie sah eine verschwommene Bewegung, ein Flattern von Farbe – Sitas türkisen Churidar. Sie bekam die Hand ihrer Schwester zu fassen, verlor sie im heftigen Sog der Welle aber sofort wieder. Stattdessen streiften ihre Finger die glatte Rinde einer Palme. Ahalya warf sich dem Baum entgegen und kämpfte mit den Beinen verzweifelt gegen die Strömung an, griff aber erneut ins Leere.
    Sie wurde schrecklich herumgewirbelt und sah den Palmenstamm erst den Bruchteil einer Sekunde vor dem Aufprall. In ihrem Kopf explodierte der Schmerz, dennoch schlang sie Arme und Beine um den Baum und klammerte sich fest. Dann verlor sie das Bewusstsein.
    Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie blauen Himmel zwischen den im Wind hin und her wehenden Palmwedeln hindurchschimmern. Um sie herum herrschte eine unheimliche Stille. Ihr Kopf fühlte sich an wie in zwei Hälften gespalten. Es vergingen noch mehrere Sekunden, ehe sich das Meer langsam zurückzog und das Land wieder freigab. Ahalya entdeckte in der Ferne Sitas Gesicht und hörte sie rufen.
    »Ahalya, hilf mir!«
    Ihr Mund war voller Salzwasser, sie brachte nur ein Wort heraus, nicht mehr als ein Krächzen: »Warte!« Sie spuckte aus und versuchte es erneut: »Warte, Sita! Warte, bis das Wasser sinkt.«
    Was es dann auch tat. Endlich.
    Ahalya ließ sich langsam am Stamm der Palme hinuntergleiten, bis ihre Füße nassen Boden berührten. Der Churidar hing ihr in Fetzen vom Leib, und Blut lief ihr übers Gesicht. Sie watete über die schlammige Fläche zu Sita und löste deren steife Arme von dem Baumstamm, der sie gerettet hatte. Während sie ihre Schwester beschützend in den Arm nahm, spähte sie durch das Palmenwäldchen in Richtung Strand. Der schreckliche Anblick, der sich dort bot, drang zunächst gar nicht richtig in ihr Bewusstsein. Die Dornbüsche, die den Strand säumten, hatten keine Blätter mehr. Um sie herum trieben dunkle Umrisse auf der Oberfläche des schlammigen Wassers.
    Ahalya starrte auf
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