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Du bist in meiner Hand

Du bist in meiner Hand

Titel: Du bist in meiner Hand
Autoren: Corban Addison
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hin. Ahalya dagegen widerstand dem Drang zu schlafen und ließ den Blick über den Markt schweifen, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht. Ihr Vater kannte in Kovallam etliche Männer, an deren Namen sie sich jedoch nicht erinnern konnte.
    Als sie auch nach einiger Zeit niemanden sah, der ihr bekannt vorgekommen wäre, überlegte sie, wie viel der Schmuck in ihrem Beutel auf der Straße wohl wert war. Wie viel würde es kosten, sich von einem Fahrer nach Chennai bringen zu lassen? Ihre Intuition riet ihr, lieber kein Taxi zu nehmen, aber bisher hatte sie keine Busse durch den Markt fahren sehen, und sie bezweifelte, dass an diesem Nachmittag überhaupt einer die Fahrt in die gewünschte Richtung antreten würde. Zu Fuß hatten Sita und sie keine Chance, es bis nach Chennai zu schaffen, zumindest nicht im Lauf des Nachmittags, und sie kannte keinen Ort außerhalb der Stadt, wo sie die Nacht in Sicherheit verbringen konnten.
    Die Mädchen ruhten sich über eine Stunde lang im Schatten des Sonnenschirms aus. Sita rührte sich nicht, und auch Ahalya schlief schließlich ein. Als sie wieder aufwachte, stellte sie fest, dass die Sonne ihren Zenit bereits überschritten hatte. Sie musste bald eine Entscheidung treffen.
    Sie wandte sich dem Verkäufer zu, um ihn wegen eines Fahrers zu fragen, aber in dem Moment sprang ihr ein Gesicht in der Menge ins Auge, das ihr bekannt vorkam. Sie hatte es schon einmal gesehen, und zwar bei einem abendlichen Empfang, zu dem sie ihren Vater im Frühjahr begleitet hatten. Der Mann hatte ihren Vater herzlich begrüßt, und ihr Vater hatte entsprechend reagiert. Ahalya konnte sich nicht an den Namen des Mannes erinnern, vergaß aber nie ein Gesicht.
    Sie kniff Sita leicht in den Arm, um sie zu wecken. Nachdem sie ihrer Schwester eingeschärft hatte, sich ja nicht von der Stelle zu rühren, schlängelte sie sich zwischen Kühen, Autos und Rikschas hindurch auf den Mann zu.
    »Sir«, sprach sie ihn auf Englisch an, »ich bin Ahalya Ghai. Naresh Ghai ist mein Vater. Erinnern Sie sich an mich?«
    Der Mann sah sie einen Moment fragend an, dann zog sich ein Lächeln über sein Gesicht. »Aber natürlich«, antwortete er in steifem Englisch. »Ich bin Ramesh Narayanan. Wir haben uns bei einem Treffen der Historischen Gesellschaft von Tamil kennengelernt.« Verwundert sah er sie an. »Was machst du hier? Bist du mit deinem Vater unterwegs?«
    Die Frage versetzte Ahalya einen Stich mitten ins Herz. Sie sammelte sich kurz, dann erzählte sie ihm stockend die schreckliche Wahrheit über ihre Familie.
    Während sie berichtete, wich das Blut aus Rameshs Gesicht. Ihm war anzusehen, dass er krampfhaft nach den richtigen Worten suchte. Schließlich fragte er nur: »Wo ist deine Schwester?«
    Ahalya deutete auf den Stand des Gemüseverkäufers. »Wir sind unterwegs zu unserer Klosterschule in Tiruvallur. Die Nonnen werden sich um uns kümmern.«
    Rameshs Blick wanderte zwischen Ahalya und Sita hin und her. »Ihr werdet eine Mitfahrgelegenheit brauchen.«
    Ahalya nickte. »Bis hierher sind wir zu Fuß gegangen, aber Sita ist schon sehr müde.«
    Ramesh schürzte die Lippen. »Dann seid ihr in der gleichen Lage wie ich. Der Bus, mit dem ich gekommen bin, fährt nicht mehr. Ich versuche schon die ganze Zeit, einen Fahrer aufzutreiben, der mich zurück nach Chennai bringt.« Er hielt einen Moment inne und bedachte sie mit einem kleinen Lächeln. »Keine Sorge, ich werde mich darum kümmern, dass ihr bei Einbruch der Nacht in Tiruvallur seid. Das ist das Mindeste, was ich für die Töchter von Naresh Ghai tun kann.«
    Ahalya war schier überwältigt vor Erleichterung.
    »Warte bei deiner Schwester«, wies Ramesh sie an. »Ich komme euch holen, sobald ich kann.«
    Nach einiger Zeit kehrte Ramesh mit einem drahtigen Mann zurück, der über einer khakigrünen Hose ein weites, Kurta genanntes Hemd trug. Der Mann hatte eingefallene Wangen, kalte Augen und eine Narbe am Kinn. Nach einem Blick auf die Schwestern nickte er Ramesh zu. Ahalya verspürte gegenüber dem narbengesichtigen Mann ein instinktives Misstrauen, hatte aber keine andere Wahl, als Rameshs Hilfe anzunehmen.
    »Wohin bringen Sie uns?«, fragte Sita mit einem leichten Zittern in der Stimme.
    Ramesh antwortete ihr: »Dieser Mann – er heißt Kanan – hat einen Lieferwagen mit Vierradantrieb. Er ist der einzige Mensch in ganz Kovallam, der bereit ist, sich nach den Wellen noch auf die Straße zu wagen, noch dazu zu einem erstaunlich fairen Preis.
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