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Dshamila

Dshamila

Titel: Dshamila
Autoren: Tschingis Aitmatow
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einer an!" platzte ich heraus. Und Dshamila rief sogar ganz hingerissen: „Warum hast du uns denn noch nie was vorgesungen? Nun mal los, aber richtig!"
    Vor uns tauchte ein heller Lichtfleck auf, es war die Ausfahrt aus der Schlucht in die Ebene. Ein sanfter Wind wehte von dorther. Danijar sang wieder. Er begann abermals schüchtern und unsicher, doch allmählich gewann seine Stimme Kraft, sie erfüllte die ganze Schlucht und hallte von den fernen Felsen wider.
    Am meisten überraschten mich die Leidenschaft und die glühende Begeisterung, die aus der Melodie klangen. Ich wußte nicht, wie ich das nennen sollte, und ich weiß es auch heute noch nicht, vielmehr ich kann nicht bestimmen, inwieweit das an der Stimme lag oder an etwas noch Wichtigerem, das unmittelbar aus dem Herzen quillt, das die Kraft hat, in anderen die gleiche Erregung auszulösen und die schlichtesten Worte mit Leben zu erfüllen.
    Wenn ich doch das Lied Danijars auch nur annähernd wiedergeben könnte! Es hatte fast keinen Text, ohne Worte öffnete es die ganze weite menschliche Seele. Nicht vorher, nicht nachher — niemals habe ich ein solches Lied gehört. Es glich weder den kirgisischen noch den kasachischen Gesängen, und doch barg es die einen wie die anderen in sich. Danijars Lied griff die schönsten Melodien der beiden verwandten Völker auf und verflocht sie auf eigene Art zu einer einheitlichen, einzigartigen Musik. Es war das Lied der Berge und Steppen, mal stieg es tönend auf wie die kirgisischen Berge, mal strömte es hin, weit wie die kasachische Steppe.
    Ich lauschte und wunderte mich: Jetzt sieht man erst, was in diesem Danijar drinsteckt! Wer hätte das gedacht!
    Wir befanden uns bereits in der Steppe, auf dem weichen, ausgefahrenen Weg. Danijars Gesang breitete sich jetzt frei in der Ebene aus. Immer neue Melodien lösten einander ab und flossen harmonisch ineinander über. War denn Danijar so reich? Was war mit ihm vorgegangen? Als habe er nur auf seinen Tag, seine Stunde gewartet!

    Mir erschienen auf einmal all seine seltsamen Gewohnheiten, die bei den Leuten Unverständnis und Spott hervorriefen — seine Verträumtheit, seine Neigung zur Einsamkeit, seine Schweigsamkeit —‚ in einem anderen Licht. Ich wußte jetzt, warum er abendelang auf dem Wachtberg saß, warum er die Nächte einsam am Fluß verbrachte, warum er ständig nur ihm wahrnehmbaren Klängen nachlauschte und warum seine Augen zuweilen aufloderten und die Brauen sich plötzlich erwartungsvoll hoben. Das war ein Mensch, der eine tiefe Liebe in sich trug. Keine Liebe, das fühlte ich, wie man sie für einen anderen empfindet, sondern eine weit größere, die Liebe zum Leben, zur Erde. Ja, er verwahrte diese Liebe in sich, in seiner Musik, er lebte durch sie. Ein gleichgültiger Mensch hätte niemals so singen können.
    Als der letzte Nachhall des Liedes schon zu verklingen schien, weckte ein neuer, schwingend aufsteigender Einsatz die schlummernde Steppe. Und sie hörte dem Sänger dankbar zu, dessen ihr vertraute Melodie sie liebkoste. Sanft wogten die weiten, reifen, graublau schimmernden Getreidefelder, die noch auf die Mahd warteten. Helle, dem Morgendämmern vorauseilende Lichtflecke huschten über das ebene Land. Bei der Mühle rauschte das Laub einer alten, mächtigen Weidengruppe. Jenseits des Flusses verglühten die Feuer der Feldlager. Lautlos wie ein Schatten sprengte ein Reiter am Ufer entlang auf den Ail zu, bald in den Gärten verschwindend, bald wieder auftauchend. Der laue Wind roch nach Äpfeln, gleichzeitig spürte man den an frischgemolkene Milch erinnernden Duft von blühendem Mais und den warmen Geruch trocknenden Kamelmistes.
    Lange, selbstvergessen sang Danijar. Stumm lauschte ihm die verzauberte Augustnacht. Selbst die Pferde waren in einen langsamen Tritt gefallen, als fürchteten sie, das Wunder zu zerstören.
    Da brach Danijar plötzlich sein Lied mit einem ganz hohen, silbrig klingenden Ton ab und trieb schnalzend die Pferde an. Ich dachte, Dshamila würde ihm folgen, und schickte mich ebenfalls zu schnellerer Fahrt an, doch sie rührte sich nicht. Sie blieb unbeweglich sitzen, den Kopf seitwärts geneigt, und schien noch immer den in der Luft schwebenden, für sie nicht verklungenen Tönen zu lauschen. Danijar fuhr davon, und wir wechselten bis zum Ail kein Wort. Warum sollten wir auch sprechen? Man muß nicht immer in Worten reden, und nicht immer kann man es .
    Seit diesem Tage schien sich in unserem Leben etwas verändert zu
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