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Dreizehn bei Tisch

Dreizehn bei Tisch

Titel: Dreizehn bei Tisch
Autoren: Agatha Christie
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Menschen laufen im Leben große Gefahr.«
    »Gefahr?«, wiederholte ich erstaunt.
    »Ich habe ein Wort gebraucht, das Sie überrascht, mon ami. Gefahr, ja. Weil eine solche Frau nur eins sieht – sich selbst. Sie sieht nichts von den Gefahren und Zufällen, von denen sie umgeben ist – die unzähligen unvereinbaren Interessen und Beziehungen im Leben. Früher oder später zieht das Unheil nach sich.«
    Das Ungewöhnliche dieses Gedankengangs fesselte mich um so mehr, als mir selbst ein solcher Einfall nie gekommen wäre.
    »Und die andere?«, wollte ich wissen.
    »Miss Adams?« Wieder streifte Poirots Blick den Tisch der jungen Amerikanerin. »Nun, was wünschen Sie über sie zu hören?«, lächelte er dann.
    »Nur, welchen Eindruck sie auf Sie macht.«
    »Mon cher, bin ich heute Abend vielleicht ein Wahrsager, der in der Handfläche liest und den Charakter deutet?«
    »Wer verstünde das wohl besser als Sie!«
    »Nett, dass Sie mir soviel zutrauen, Hastings. Es rührt mich tief. Wissen Sie nicht, mein Freund, dass jeder einzelne von uns ein dunkles Geheimnis ist? Ein Sammelsurium von sich widersprechenden Leidenschaften und Begierden und Neigungen? Mais oui, c’est vrai. Da fällt man so ein kleines Urteil, aber neunmal von zehn trifft man daneben.«
    »Nicht, wenn man Hercule Poirot heißt.«
    »Ja, sogar Hercule Poirot! Oh, Sie meinen immer, ich sei eitel und eingebildet. Falsch, Hastings. Ich versichere Ihnen, dass ich in Wahrheit ein sehr bescheidener Mensch bin.«
    »Sie – bescheiden!«, lachte ich.
    »Aber wirklich. Ausgenommen natürlich, dass ich – wozu es leugnen? – ein wenig stolz auf meinen Schnurrbart bin. Nirgendwo in London habe ich einen Bart gesehen, der sich mit meinem messen kann.«
    »Das glaube ich gern«, sagte ich trocken. »Aber wollen wir nicht lieber von Carlotta Adams sprechen? Ihr Urteil über sie, Poirot.«
    »Sie ist Künstlerin durch und durch«, erklärte er schlicht. »Sagt das nicht alles?«
    »Mithin geht sie gefahrlos durchs Leben, wie?«
    »So einfach liegen die Dinge nicht«, widersprach Poirot ernst. »Auf uns alle kann unversehens Unglück herabstürzen. Aber was Ihre Frage betrifft, so glaube ich, dass Miss Adams Erfolg beschieden sein wird. Sie ist schlau. Trotzdem könnte für sie die Liebe zum Geld gefährlich werden. Liebe zum Geld lenkt solch einen Menschen oft vom klugen und vorsichtigen Pfad ab.«
    »Geld lenkt uns alle leicht ab.«
    »Richtig, Hastings. Sie jedoch oder ich würden die Gefahr sehen; wir könnten das Für und Wider abwägen. Wenn Sie sich aber zu viel aus Geld machen, so sehen Sie nur das Geld – alles Übrige bleibt im Schatten.«
    Sein tiefer Ernst reizte mich zum Lachen.
    »Esmeralda, die Zigeunerkönigin, ist heute in guter Form«, hänselte ich.
    »Charakterdeutung ist ein ungemein fesselndes Gebiet«, gab Poirot unbewegt zur Antwort. »Man kann sich nicht mit Verbrechen befassen, ohne sich auch gleichzeitig mit Psychologie zu beschäftigen. Nicht um die eigentliche Mordtat, sondern um das, was hinter ihr liegt, geht es dem Sachverständigen. Verstehen Sie mich, Hastings?«
    Ich versicherte ihm, dass ich ihn voll und ganz verstünde.
    »Sooft wir einen Fall zusammen bearbeiten, stacheln Sie mich zu physischer Tätigkeit an. Ich soll Fußspuren messen, ich soll Zigarettenasche analysieren, ja mich sogar auf den Bauch legen, um irgendeine Einzelheit zu prüfen. Sie vermögen sich einfach nicht vorzustellen, Hastings, dass man der Lösung eines Rätsels näherkommen kann, wenn man sich mit geschlossenen Augen in einem Sessel zurücklehnt. Dann sieht man mit den Augen des Geistes.«
    »Ich nicht, Poirot. Wenn ich mich mit geschlossenen Augen in einem Lehnsessel zurücklehne, passiert mir unweigerlich nur eins!«
    »Das habe ich bemerkt, mon cher. Seltsam! In solchen Momenten müsste Ihr Hirn doch fieberhaft arbeiten und nicht in dumpfe Ruhe versinken. Wie anregend ist Gehirntätigkeit! Das Benutzen der kleinen grauen Zellen ist geistiger Genuss. Ihnen und ihnen allein darf man sich anvertrauen, wenn man durch dichten Nebel zur Wahrheit gelangen will…«
    Ich fürchte, dass ich die Gewohnheit angenommen habe, meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten, sobald Poirot seine kleinen grauen Zellen erwähnt. Was Wunder, da ich das alles schon so häufig habe hören müssen?
    Diesmal flüchtete sich meine Aufmerksamkeit zu den vier Personen am Nachbartisch. Und als Hercule Poirots Selbstgespräch endlich zu einem Ende gelangte, warf ich
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