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Drei Irre Unterm Flachdach

Drei Irre Unterm Flachdach

Titel: Drei Irre Unterm Flachdach
Autoren: Bastienne Voss
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der »Ballerer« überall, Tag und Nacht. Großmutter und ich e r hielten Order, Herrn Reimer zu beobac h ten. Abends mußten wir Bericht erstatten, wann und wo wir ihn gesehen hatten und was genau er getan hatte. Großvater meinte, er würde ihm hinter Mauern und Zäunen auflauern und wolle ihn liquidieren. Wir sahen den kle i nen Herrn Reimer, der ein Bäuchlein hatte und eine braune A k tentasche aus Kunstleder, tagein tagaus zur Arbeit gehen und gut gelaunt wieder nach Hause kommen. Das sagten wir auch, aber Gustav glaubte uns kein Wort. Er ging zum Angriff über. Der arme Herr Re i mer wurde seines Lebens nicht mehr froh, denn Genosse Voss verfolgte seinen Verfolger, bis der das Feld räumte und we g zog.
    Er zankte wegen Belanglosigkeiten. Mit den Nachbarn wegen eines Astes, der in unsern Garten rübergewachsen war, mit Großmutter über die Handhabung des Rase n mähers: »Daß du mir ja nicht über die Strippe fährst! Du mußt sie immer hochhalten, sonst fährst du mir über die Strippe! Da werd ich fuch s teufelswild!« Großmutter mähte seit Jahren den Rasen, ohne jemals über die Strippe gefahren zu sein. Man konnte sagen, sie hatte im Rase n mähen eine gewisse Erfahrung.
    Mit Behörden haderte er um Pfennige. Er schrieb ein halbes Jahr lang Briefe, weil er meinte, an irgen d wen zehn Pfennige zuviel bezahlt zu haben. Mit den Elektrizitätswerken stritt er um die Stromrechnung, belehrte die Mitarbeiter, daß er genau wisse, wann er das Licht ein- und ausschalte. Die Rechnung könne u n möglich höher sein als im Vorjahr. Mit seinen Briefen hatte er nie Erfolg. Trot z dem konnte er den Terror nicht lassen. Der Ärger, den er überall machte, ve r schaffte ihm Genugtuung. Beim Abendessen war er fröhlich, wenn er den Tag mit dem Verfassen von Drohbriefen an Behörden zugebracht hatte. »Diesen Krümelkackern werde ich noch in die Bude wichsen!« frohlockte er und schmierte sich, vorausg e setzt, es war die richtige Sorte, dick Leberwurst auf die Stulle.
    Wir mußten hilflos dem Tagwerk eines Tyrannen zusehen, der seine b e scheuerten Briefe schrieb und losbrüllte, wenn man ihm sagte, daß seine Unte r nehmungen sinnlos seien.
    »Dein Opa hat ’nen Knall! Der gehört inne Anstalt!« riefen mir wildfremde Kinder hinterher. Das machte mich wütend. Ich verte i digte ihn. Ich liebte ihn. Er war, wie er war. Wir verstanden uns.
    Wenn er ausflippte, weil ich mich nicht an seine schwachsinnigen Vorschri f ten hielt, übte ich Rache. Im Laufe der Zeit hatte ich rausgefunden, wie man ihn kleinkriegen konnte, und je älter ich wurde, desto härter rechnete ich mit ihm ab. W i derstand war das einzige, was er kapierte. Mit Kampf und Widerstand konnte er umgehen, der alte Wide r standskämpfer, der im KZ resistent gegen jede Form von Ruhe und Frieden geworden war. Danach war der Kampf weitergegangen. Der Kampf gegen das irrationale Schul d gefühl, überlebt zu haben. Dabei war die gelungene Flucht der größte Sieg seines Lebens gewesen. Doch das alles verstand ich erst viel später.
    Er liebte mich. Zu Hause stritten wir, gegen die Außenwelt bildeten wir eine Front. Wenn er meinte, ich würde ungerecht b e handelt, zog er mit fliegenden Fahnen ins Gefecht gegen meine Widersacher, mit der gle i chen überbordenden Energie, mit der er mich anbrüllte.
    Er bastelte mir phantastisches Spielzeug. Eine Stadt aus Pappkarton. Lauter kleine Häuser, aufgeklebt auf eine drei mal drei Meter große Sperrholzplatte. Die Fenster der Häuser aus Pergamentpapier, in verschi e denen Farben angemalt. Laternen, bunte Autos, Plastemenschen, Straßen und Plätze. Ein Marktplatz mit Brunnen, ein Rathaus, ein Fachwerkviertel, ein Neubaugebiet mit »Karl-Marx-Schule«. Im Hintergrund, auf einer im rechten Winkel ang e brachten Holzwand, ein Gebirge in Öl. Unter der Platte ein Kabel mit Stecker. So ließ sich die Stadt hell erleuchten. Die Late r nen brannten, und aus den Häusern schien gelbes, rotes und we i ßes Licht.
    Auch ein Theater baute er mir. Das größte und schönste Ka s perletheater, das ich je gesehen hatte. Die Wände mit Biedermeierstoff bespannt, die Vo r hänge aus dunkelrotem Samt. Stundenlang kniete er dahinter und spielte für mich mit Ka s per, Gretel und dem Krokodil. Das Krokodil war blutrünstig und gefräßig. Es lauerte hinter dem Samtvorhang, der verdächtig zitterte. Im richtigen Augenblick stürzte es hervor und ve r schlang die arme Gretel, die gerade erst aufgetreten war. Während das Krokodil
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