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Drei Irre Unterm Flachdach

Drei Irre Unterm Flachdach

Titel: Drei Irre Unterm Flachdach
Autoren: Bastienne Voss
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deinem Bruder?« Ich sitze im Halbdunkel am Fußende ihres Bettes, dreißig Jahre nach unserer gemeinsamen Zugtour nach Schwerin. Die Jalousien sind ru n tergelassen, es fällt kaum Tageslicht ins Zimmer, in dem es nach Alter riecht. Sie ist sechsundneunzig, kneift die Augen zusa m men, zieht die Schultern hoch und drückt den Oberkörper nach vorn wie g e gen ein unsichtbares Hindernis. Erinnern als physischer Kraftakt: »Gustav, Gustav ... ach Gustav!« Sie haucht den Namen, dann fängt sie an zu schluchzen: »Was wollte ich bloß sagen – es fällt mir nicht ein – fällt mir nicht ein – fällt mir ei n fach nicht ein!« Zur Verzweiflung kommt die Wut über den Verlust der Erinn e rung. Doch plötzlich strahlt das runzelige G e sicht. »Streiche haben wir gemacht – in der Dämmerung haben wir Päckchen auf den Gehweg gelegt – mit so Bru m meln vom Köter drin oder toten Mäusen – widerlich, was? Die Leute haben das au f gehoben – na, möchtest du zu Hause ’ne tote Maus auswickeln – is nich schön – denkste, das is schön? Mitten in der Nacht lache ich darüber – was der so alles aufm Kerbholz hatte. Ich mach das ja immer noch – gehe nachts runter und g u cke auf die große Uhr – dann fragen die, was ich da suche – jaaa, was suche ich wohl – ich gucke, wie spät es ist – ich suche nämlich den nächsten Tag – a n scheinend ist es so – ich kann’s ihnen nicht genau sagen – aber es scheint wohl der nächste Tag zu sein, den ich suche.« Sie kichert, streckt mir die Zunge raus und sagt unvermittelt: »Einstein.« Dann erzählt sie vom Essen: »Ich esse ja gerne. Vossens fressen alle gerne! Kann ich doch nichts dafür, daß ich so verfressen bin. Kein Mann frißt soviel wie Frau Voss, hieß es immer.« Ich nicke.
    »Dein Bruder Gustav hat auch gern gegessen, stimmt’s?« »O ja, Gustav hat gerne gefressen, o b wohl der gar nicht gut zu Fuß war mit seinem Darm. Gustav hat, Gustav hat, ich muß noch mal ganz stark nachdenken – Gustav hat Wilma geheiratet, 1945 – das is schon wieder k o misch, was? – der hat sich die Keule genommen und einfach aufgefressen – ganz alleine – das gehört sich doch nicht – bei der Hochzeit – 45 – da gab es doch nichts – seltsam war es ja, seltsam war es ganz bestimmt.«
    Auf einmal ist sie putzmunter, beschwert sich über den Pfleger, der ihr »Männerpuschen angedreht« hat, »wah r scheinlich sind die von dem, der letzte Woche gestorben is, eins drunter, Krutschinski oder so«, und schimpft über den Nach t dienst, der dauernd mit der Frage nerve, ob alles in Ordnung sei. »Na, das sehen Sie doch, wie es hier aussieht. Also, ich finde es nicht in Ordnung. Ist alles in Ordnung, wenn man hier so rumliegt?« Wir lachen. »Mach mal die Jalousie hoch! Siehste da, die Meisen. Und Knödel darf ich auch nicht hinhängen, machen Dreck, sagt die Heimleitung.« Sie schlürft ihren Kaffee, den sie Lorke nennt, und kaut an einem bröseligen Miniamerikaner rum – Teatime im Altersheim, Gemü t lichkeit ist relativ. »Ich hab doch immer mit dir rumgezickt, was? Aber der Gu s tav, der hat dich zur Schule getragen! Der hatte dich ganz, ganz lieb! Der war ganz stolz und glüc k lich! Hat er dich nicht mal verdroschen? Jaaa, weil du ihn auf die Palme gebracht hast. Na, ihr habt euch wohl gegenseitig auf die Palme gebracht, was?«
    Ich frage, ob sie sich Sorgen gemacht hat um ihren Bruder, damals, als er im Zuchthaus war und dann im KZ. »Das war schlimm – ich hab mir die Erlaubnis geholt, daß ich ihm alle paar Wochen schreiben darf – ich hab das ganz öffen t lich gemacht – selbst in der Firma, wo ich gearbeitet habe, wußten alle B e scheid – aber es ist mein Bruder, hab ich gesagt – so isses nämlich im Leben – die haben einen, wo sie nur konnten, schlecht gemacht – die wußten ja gar nicht, warum er ins KZ gekommen ist – natürlich hat er gesessen – is ja ganz klar – wenn man solche politischen Dinge macht, kriegt man einen aufg e brummt – und trotzdem ist es mein jüngster Bruder, hab ich gesagt, wenn die mich so angefeindet haben – wir sind doch alle Gottes Geschöpfe – und später, nach dem Krieg, hier in Gö t tingen – ich hab immer zu ihm gestanden – es ging im Richardsstift und überall rum, bis in die Gemeinde – daß er Kommunist war – das ist bis in die höchsten Kreise gedru n gen – man mochte mich nicht hier, mit so einem Bruder – aber ich hab immer zu ihm gesta n den – vorher und nachher – Gustav
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