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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Autoren: Redline Wirtschaft
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…«
    »… nein, danke !« »… ich arbeite hier nur, tut mir leid.« »… deutscher Chef nich da. Arbeit bei Bank. Klingelt nächste Haus!« »… die Hausherrin ist nicht hier, und ich darf nicht helfen.« Selbst dort, wo die Reichen wohnen, ist es unmöglich, mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
    Nur eine Frau um die 40, die gerade Einkaufskörbe aus ihrem Mercedes hievt, kann uns nicht entkommen. Sie ist der Typ Familienmanagerin mit Kurzhaarschnitt und Parka. Viola fragt, ob sie die Toilette benutzen dürfe – und macht Bekanntschaft mit einer beheizten Klobrille. Das ist mehr, als zu erwarten war, in jeder Hinsicht. Diese Frau ist die Erste, die uns ihre Tür öffnet, zu einer hell gefliesten Hauswelt mit Fensterfront zur Burg, an den Wänden Kinderzeichnungen. Sie ist auch die Erste, die nach unserer Geschichte fragt, mit der Souveränität einer Personalchefin oder vielfachen Mutter. Endlich können wir unsere Legende erzählen, die von zwei gescheiterten Gestalten auf dem Weg nach Süden, vielleicht nach Spanien, wo sie auf Wärme hoffen.
    »Da haben Sie es aber noch weit«, sagt sie.
    Endlich der Ansatz eines Gespräches, eine Frage, ein Entgegenkommen. Wir ahnen nicht, dass dies auch das letzte Mal gewesen sein wird. Bis in den Abend sind uns Menschen und Häuser verschlossen. Bleibt bloß der Pfarrer.
    Das Pfarrhaus der evangelischen Kirche sieht aus wie aus einem Adventskalender in die Wirklichkeit kopiert: Holztür, Veranda, Weihnachtsbaum.
    Wieder Klingeln, wieder Warten, wieder ein blechernes »Ja!?« aus einem Lautsprecher. »Wir haben eine Bitte.« Nach einer Weile öffnet sich die Tür, im hellen Spalt eine schwarze Silhouette. Der Pfarrer. »Wir sind ohne Obdach und wollten fragen, wo man hier schlafen kann.«
    »Meines Wissens gibt es hier nichts .« »Dürfen wir nicht bei Ihnen übernachten?« »Nein. Wir haben uns darauf verständigt, dass das nicht geht.« »Aber Sie sind doch die Kirche.« Mit diesem Satz ist unsere Verlegenheit zu ihm gewechselt. »Trotzdem«, sagt er. »Wir haben auch Schlafsäcke dabei.« »Nein. Und mit Verlaub: So etwas ist hier noch nie vorgekommen.«
    Heißt es in der Bibel nicht: »Klopfet an, so wird euch aufgetan«? Und sagt Jesus nicht: »Was ihr getan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir getan«? Wo jeder hat, kann man offenbar nicht helfen lernen.
    Und doch: Der Pfarrer macht die Tür nicht ganz zu. Er scheint mit sich zu ringen. Wie oft hat er mit den Kindern der Gemeinde das Krippenspiel geprobt, und jetzt das! Wenn er nicht hilft, wer dann? Er zögert, grübelt, verschwindet dann im Pfarrhaus – nicht ohne vorher vorsichtshalber die Tür zu schließen – und kommt zurück mit 20 Euro, der Adresse einer Jugendherberge 15 Kilometer weiter und einer Plastiktüte, in die er fast all seine Vorräte gestopft haben muss: ein halber Laib Brot, Wurst, Käse, Tomaten, Äpfel, Orangen, Wasser, Kekse. Sogar Gummibärchen.
    Die Tasche wiegt so schwer wie sein Gewissen. Und ist so voll, dass wir uns auf einen langen Weg machen könnten. Weit weg von dieser Stadt.
    Mit der S-Bahn-Linie 4 fahren wir zurück, vorbei an Pferdekoppeln und Streuobstwiesen, durch das Gewürfel der Gewerbegebiete hi­nein in Frankfurts Hochhauskulisse, wo wir ein Hotel nehmen. Die Lebensmittel lassen wir in der Bahnhofsmission.
    Wird der Pfarrer in dieser Nacht über seinen Ablasshandel nachgedacht haben? Ob das Mädchen aus dem Park vor dem Einschlafen seine Mutter gefragt hat, wo die faulen Feiglinge geblieben sind?
    Und was wird die Frau getan haben, die Viola auf ihre Toilette ließ? Hat sie ihr Bad desinfiziert? Sich von ihrem Mann anhören müssen, dass man keine fremden Katzen füttert? Ist sie beunruhigt oder stolz zu Bett gegangen? Oder hat sie uns vergessen?
    Womöglich haben wir kleine Erschütterungen in Kronberg ausgelöst. Ganz gewiss aber in uns selbst. Was hätten wir an ihrer Stelle getan? Hätten wir anders gehandelt? Das sind die Fragen, die sich jedem Kritiker und jedem Tester stellen – und auf die es keine Antwort gibt. Nur einen 200 Jahre alten Satz Gotthold Ephraim Lessings: »Der Rezensent braucht nicht besser machen zu können, was er tadelt.« Sein verhasstes Verdienst ist, zu beschreiben, was er sieht.
    Am nächsten Morgen trägt uns ein Zug nach Königstein, in Kronbergs siamesische Zwillingsstadt. Dem Veranstaltungskalender nach ebenfalls ein lohnenswertes Ziel: In dieser Woche wird der Weihnachtsmarkt eröffnet. Hier gibt es eine »Winners’
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