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Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft

Titel: Draußen - Reportagen vom Rand der Gesellschaft
Autoren: Redline Wirtschaft
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ein paar Straßen weiter vor eine Bäckerei – »wegen Mittagspause geschlossen« –, stellt einen Becher auf und beginnt, Passanten anzusprechen: »Entschuldigen Sie, wir sind ohne Obdach und brauchen Hilfe.« Sogar – oder gerade – hier, im Refugium der Reichen, klingt dieser Satz wie eine Ungeheuerlichkeit. Noch oft werden wir darüber nachdenken, ob wir uns fürs Betteln selbst schämen oder dafür, dass wir mit geheuchelter Armut dem Bettler vor Rewe das Weihnachtsgeschäft verderben.
    Vor unserem Aufbruch nach Kronberg hatten wir noch einmal das Buch Deutschland umsonst von Michael Holzach gelesen. Vor 30 Jahren hatte sich der ehemalige Zeit -Redakteur als mittelloser Mann ausgegeben und war durch ganz Deutschland gewandert. Sein Bericht verkaufte sich 200.000 Mal, ein bundesdeutsches Geschichtsbuch. »Ohne Geld durch eine Welt zu gehen, in der sich alles um Mark und Pfennig dreht, hatte etwas Utopisches für mich, erschien mir wie ein Gang in absolutes Neuland«, schrieb Holzach. Auch ihm fiel das Betteln anfangs schwer. »Ich bin mir selbst nicht glaubwürdig«, schrieb er. Im Hochtaunuskreis wurde es ernst für ihn. In einer »stinkreichen Gegend, wo sich die herrschaftlichen Villen hinter haushohem Gebüsch verstecken, als hätten sie ein schlechtes Gewissen«, half ihm niemand. Holzachs Bitten um Essen oder Arbeit wurden abgewimmelt mit Sätzen wie diesem: »Es ist genug Personal im Haus!« Vor lauter Wut und Hunger beging Holzach seinen ersten Ladendiebstahl. Er klaute vier Tafeln Schokolade.
    Beschützt von unseren Mützenkrempen, betrachten wir die Passanten: auch die Rentner rank und schlank, Führungsfiguren mit durchgedrücktem Rücken. Nach einer halben Stunde tröpfeln die ersten Münzen in unseren Becher, verbunden mit dem Hinweis: »Aber nicht für Drogen!« Der Mittag geht, die Bäckerin kommt. Als sie uns vor ihrem Schaufenster sitzen sieht, verrutscht ihr das Gesicht. Sie schließt den Laden auf und sagt: »Hier können Sie aber nicht bleiben.« Von innen beäugt sie uns durch ihre Auslagen. Als sie sieht, dass wir aufstehen, reicht sie uns in wortloser Verlegenheit eine Tüte mit drei Brötchen heraus.
    Sieben Euro, 43 Cent, drei Brötchen – das ist die Bettelbeute des ersten Tages. Verglichen mit unseren Erwartungen, durch die Holzach-Lektüre vergiftet von Vorurteilen, richtig viel. Verglichen mit den 50.000 Euro, die ein Kronberger, wie wir später erfahren werden, auf seiner Hochzeit allein für den Blumenschmuck ausgegeben hat, eher wenig.
    Schnell fällt die Dämmerung. Wo schlafen? In einer der leeren Weihnachtsmarktbuden? Auf der Burg, deren Pforte offen steht? Ein Junge hat uns von einer Begegnungsstätte des Bundes der Pfadfinderinnen und Pfadfinder oben am Hang erzählt. Wir steigen eine Straße hinauf, vorbei an immer wuchtigeren Portalen, durch deren gusseiserne Gitter gewaltige Gärten zu sehen sind, tief und schwarz. Jaguars, Porsches, Maseratis jagen an uns vorbei den Berg hinauf. Röhrend kommen die Männer nach Hause.
    Das Pfadfinderheim liegt am Ende einer Sackgasse. Über der Tür leuchtet ein roter Herrnhuter-Stern, an den Fenstern kleben Schneeflocken-Scherenschnitte, die Decken sind mit Kiefernholz vertäfelt. Der ganze gute Wille der Sechzigerjahre, Geborgenheit in Zwei-, Vier- und Sechsbettzimmern. Ein paar Burschen spielen Tischtennis. Einer fragt leise: »Sind das Penner oder Zecken?«
    Den Herbergseltern steht die Ablehnung schon in den Augen, als sie uns erblicken. Ein Paar um die sechzig, zwei müde Gesichter.
    »Was wollen Sie denn ?«, fragt der Mann.
    »Fragen, ob wir bei Ihnen schlafen dürfen.«
    »Das geht schon organisatorisch nicht. Wir nehmen nur Gruppen auf .«
    Er scheint zu riechen, dass wir kein Geld haben. Er fragt nicht mal danach. Hinter verschränkten Armen hat er sein Urteil längst gefällt.
    »Und wenn wir im Garten helfen ?«, fragen wir. »Oder in der Küche?« »Das schon mal gar nicht! Da ist das Gesundheitsamt vor.« Seine Frau sagt: »Sie können hier gern noch etwas essen …«, »... aber dann kommen die vielleicht nicht mehr weg«, raunt er ihr zu.
    Fünf Minuten später stehen wir wieder auf der Straße. In den Händen eine Tüte, eilig gepackt von der Herbergsmutter, darin Klappstullen, Äpfel, Mandarinen und Saft. Wir laufen den Hang wieder hinunter. Auf jedem Weg, in jeder Tempo-30-Zone hinterlassen wir einen Schweif aus Licht, herbeigezaubert von Bewegungsmeldern.
    Ist es Trotz, der uns zur Burg treibt, dem Wahrzeichen der
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