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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Zischen lösten sie sich in nichts auf. Ein Vergleich, den der junge Paul alles andere als tröstlich empfand.
    Er sah gern den Wellen zu, wenn sie mit den Fischerbooten spielten und auf die Steine vor ihm schwappten. Er hörte die Stimmen des Meeres. Manchmal passierte es, dass er auf diese Weise selbst die folgende Fähre verträumte.
    Du hast auch keinen Sohn, der auf dich wartet, hatte Christine gesagt, als er einmal davon erzählte.

    Nein, den hatte er nicht. Sein Sohn war tot.
    Sie hatte sich sofort entschuldigt. Sie habe nur sagen wollen, dass er keine familiären oder beruflichen Verpflichtungen kenne, keinen Chef, keine Geschäftspartner, die auf Pünktlichkeit bestanden, niemanden, der auf ihn wartete, außer ihr selbst. Und sie würde ihm eine Verspätung im Zweifelsfall nachsehen.
    Auch da hatte sie Recht. Obschon, wie er anmerkte, ihre Nachsicht, was Unpünktlichkeit betraf, von ihm bisher nicht in Anspruch genommen worden war. Wenn sie verabredet waren, wollte er die Fähre unter keinen Umständen verpassen und kam fünfzehn, zwanzig Minuten früher an den Anleger als nötig. Freiwilliges Warten machte ihm nichts aus. Für ihn war diese Zeit ein Geschenk an sich selbst.
    Christine verabschiedete sich in aller Eile mit einem flüchtigen Kuss. Er sah, wie sie über die Gangway lief, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, wenige Sekunden später war sie im Bauch des Schiffes verschwunden. Er blieb auf dem Pier stehen, winkte in die Dunkelheit und blickte der Fähre nach, bis sie hinter der Inselspitze nicht mehr zu sehen war.
    Es war ein dunkler Abend, das Meer lag tiefschwarz vor ihm, in der Ferne funkelten die Lichter von Cheung Chau und Lantau. Eine Dschunke mit Sonntagsausflüglern schipperte dicht an Lamma vorbei, er konnte das monotone Stampfen des Dieselmotors hören, ausgelassenes Kindergeschrei und die mahnenden Worte eines Erwachsenen. Von der Uferpromenade in Yung Shue Wan drangen Stimmen und Gelächter zu ihm herüber, er schlenderte die Mole entlang, genoss die milde, warmfeuchte Luft, sanft wie Seide, setzte sich in die Green Cottage direkt ans Wasser und bestellte einen frisch gepressten Apfel-Karotten-Ingwer-Saft. Niemand außer ihm war
allein unterwegs. Er vermisste Christine. Schon jetzt, obwohl ihre Fähre gerade erst in den Hongkonger Hafen einlief.
    Vor vier Wochen hatten sie an dieser Stelle gesessen, auf die dümpelnden Fischerboote geblickt, die roten Lampions, die sich im Wasser spiegelten und zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob sie zu ihm ziehen solle. Ihr Sohn könnte die Fähre zur Schule nehmen, sie eine etwas spätere ins Büro. Platz gab es im Haus genug. Zumindest räumlich. Würde er es ertragen, ein anderes Kind in Justins Zimmer zu sehen? Die Idee war so ungeheuerlich wie verlockend für ihn. Der Versuch einer Familie, mit dreiundfünfzig Jahren, nachdem der erste gescheitert war. Einen weiteren hätte er nicht.
    Der Gedanke hatte ihn seitdem nicht losgelassen, er hatte heute mit Christine darüber reden wollen, aber sie war seinen Fragen ausgewichen und den ganzen Tag über sehr still gewesen, in sich gekehrt. Liebeshungrig. Wie war sie darauf gekommen? Warum ausgerechnet heute? Hatte er ihr einen Anlass gegeben? Er versuchte sich zu erinnern, wie die Worte aus ihrem Mund geklungen hatten. Sie hatte es zärtlich gesagt. Glaubte er. Jetzt kamen ihm Zweifel.
    Sie rief jeden Sonntagabend an, bevor sie ins Bett ging, sagte, dass sie gut zu Hause angekommen sei, wie sehr sie die Stunden mit ihm genossen habe, dass sie ihn bereits jetzt vermisse, und er erklärte, dass es ihm genauso gehe. Ihr Sonntagabendritual. Für andere Paare vielleicht nichts als eine simple Gewohnheit im Zusammenleben, wie die gemeinsamen Frühstücke und Abendessen, Abschiede, Wiedersehen, Gute-Nacht-Wünsche, die immer gleichen Ich-liebedich-Versicherungen. Für Paul Leibovitz bedeutete das viel mehr.
    Es waren die kleinen Dinge, denen er jetzt Beachtung schenkte.

    Er hatte begonnen, der Schönheit in ihr Versteck zu folgen. Zum ersten Mal in seinem Leben.
    Der Tod seines Sohnes war sein Lehrmeister gewesen. Ein grausamer, unbarmherziger Lehrmeister. Einer, der keinen Fehler verzieh und keinen Widerspruch duldete. Als sein Schüler hatte Paul eine der wichtigsten Lektionen gelernt: niemals wieder etwas für selbstverständlich zu halten.
    Früher hatte er geglaubt, es sei
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