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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Missverständnis genügten, um ihn zu verunsichern, einen Moment des Zweifels entstehen zu lassen, der sich in kürzester Zeit zu einem Streit auswachsen
konnte. Für ihn war das Telefon ein Stimmungsverstärker. Es machte die Sicheren sicherer und die Ängstlichen ängstlicher. Er gehörte in diesem Moment zu den Ängstlichen. Wie sollte er ihren harschen Ton deuten, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen? Er hatte keine Ahnung, was er fragen oder sagen sollte. »Ich wollte einfach nur deine Stimme hören«, antwortete er leise.
    Â»Du hast mich geweckt.«
    Â»Das tut mir leid.«
    Sie schwiegen.
    Â»Ist irgendetwas mit dir?«, fragte er.
    Â»Was soll sein?«
    Am liebsten hätte er wieder aufgelegt. Ihre Sätze, ihre Stimme richteten das Gegenteil von dem an, was er brauchte. Wenn er nicht Acht gab, würde das Gespräch kein gutes Ende nehmen. Die Empfindlichkeit bedürftiger Menschen. Es war nicht ihre Schuld.
    Â»Wir haben seit Sonntag kaum ein Wort gewechselt. Heute Morgen bekomme ich eine SMS, in der du einfach so...«
    Â»Paul, du hast keine Vorstellung, was in den vergangenen Tagen bei mir los war. Josh ist krank und ruft mich fünfmal am Tag an. Meine Mutter hat Schmerzen in der Brust und will nicht allein zur Untersuchung ins Krankenhaus. Im Büro ist die Hölle los. Es ist Mai, und ich bin im ersten Halbjahr fast zwanzig Prozent im Minus. Weißt du, was es heißt, wenn wir das nicht aufholen?«
    Â»Christine, ich weiß, ich verstehe nur nicht...«
    Â»Du hast zu viel Zeit, das ist das Problem«, unterbrach sie ihn erneut. »Wenn ich den ganzen Tag mein Haus putzen, kochen und spazieren gehen würde, käme ich auch auf dumme Gedanken.«

    Was sollte er darauf antworten?
    Â»Entschuldige«, sagte sie nach einer langen Pause. »Ich habe es nicht so gemeint.«
    Â»Du musst dich nicht entschuldigen.«
    Â»Ich wollte dir nicht wehtun.«
    Paul fühlte sich leer, erschöpft, als hätten sie zwei Stunden miteinander gestritten. »Du meinst, mehr ist es nicht?«
    Â»Mehr nicht?« Ihre Stimme wurde wieder schärfer. »Hast du mir nicht zugehört? Das ist ziemlich viel, wenn du mich fragst.«
    Â»Natürlich. Das ist alles viel für dich, aber das habe ich nicht gemeint.«
    Â»Was denn?«
    Â»Ich mache mir Sorgen.«
    Â»Um mich?«
    Â»Ja. Um uns.«
    Sie seufzte tief. »Paul, es ist spät. Ich kann morgen nicht ausschlafen. Mein Wecker steht auf sechs Uhr dreißig. Können wir darüber ein anderes Mal reden?«
    Jetzt hörte er, wie müde sie klang. »Ja sicher. Aber wann?«
    Â»Bald. Ganz bald.«
    Â»Ich liebe dich. Schlaf gut.«
    Â»Ich dich auch. Gute Nacht.«
    Â»Dir auch. Für immer und …«
    Sie hatte aufgelegt.
    Ich dich auch. Mehr hatte er nicht hören wollen. Wie ein Kind.
    Paul dachte an Justin. Ich liebe dich. Bis zur Sonne und wieder zurück . Jeden Abend hatte er das zu ihm gesagt, nachdem er das Licht gelöscht hatte. Ich dich auch, hatte eine müde Kinderstimme in der Dunkelheit zurückgeflüstert.
    Sie hatte in allem Recht. Er würde morgen nach Hongkong
fahren, sie zum Mittagessen einladen und sich bei ihr entschuldigen.
    Als wäre Vertrauen etwas für Dumme. Als hätten wir eine Wahl.
    Er wäre gern mit diesem beruhigenden Gedanken eingeschlafen. Etwas hielt ihn wach. Ein Gefühl, das er sich nicht traute, in Worte zu fassen.

II
    Sie hatte kurz gezögert. Im Büro war viel los. Es passte ganz schlecht. Morgen wäre ein günstigerer Tag. Als sie hörte, dass er bereits auf der Fähre war, stimmte sie zu. Paul ging vom Pier direkt in die IFC Mall, kaufte eine kleine Schachtel ihrer Lieblingspralinen und eine langstielige, tiefrote Rose.
    Sie trafen sich im World Peace Cafe, einem Restaurant in der Tai Wong Street East in Wan Chai; es lag im Erdgeschoß eines buddhistischen Zentrums, keine fünf Minuten von Christines Büro entfernt. Sie betraten einen hohen Raum, dessen Fenster bis auf den Boden reichten, und der, für Hongkonger Verhältnisse, verschwenderisch viel Platz zwischen den Tischen bot. Auf einer Tafel waren mit Kreide drei vegetarische Gerichte angeschrieben, aus Lautsprechern unter der Decke drang gedämpfter Jazz, in mehreren Regalen ruhten Buddhas in verschiedenen Größen, jeden Tisch schmückten eine kleine Blumendekoration und ein brennendes Teelicht. Es war das Gegenteil
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