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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder
Autoren: Hera Lind
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»Junge, hol doch mal Luft!« Los, Allah, dein Auftritt: Sag ihm dass ich eine von den Guten bin! »Ich tu doch, was ich kann!« Vor dem Krankenhaus blieb ich im Halteverbot stehen und trug den brüllenden Knaben zur Notaufnahme. »Können Sie uns vorlassen, wir können hier unmöglich warten!« Schweißgebadet steckte ich meinen Kopf in das kleine Glasfenster bei der Anmeldung. »Der Junge hat Schmerzen!«
    »Erst mal müssen Sie diese Formulare hier ausfüllen!« Eine Hand schob mir gefühlte sieben Din-A-4-Seiten hin. »Krankenkasse, Name, Adresse, behandelnder Hausarzt …«
    »Das ist ein Flüchtlingskind aus Afghanistan«, schrie ich gegen den Krach an, den das Flüchtlingskind machte. »Mit akuten Verletzungen!«
    »Wir tun, was wir können.«
    Dennoch saß ich unter den bösen Blicken der anderen Mütter eine gefühlte Ewigkeit im Wartezimmer und versuchte, den fremden kleinen Terroristen auf meinem Schoß zu bändigen. Verständlicherweise hatte er weder Lust auf Pippi Langstrumpf noch auf pädagogisch wertvolle Bauklötze. Auch mit einem Kinderschokoladeriegel konnte ich ihn nicht zum Schweigen bringen. Wie ich später lernen sollte, ekeln sich kleine Afghanen nämlich vor Schokolade: Sie wollen Zuckermandeln und getrocknete Feigen. Aber die gab’s hier gerade nicht.
    Endlich wurden wir in den kleinen Behandlungsraum vorgelassen, und der Anblick, der sich mir nach dem Aufschneiden des Gipsbeins bot, war einfach nur grausam. Zu viert mussten wir den wild um sich schlagenden kleinen Kerl festhalten. Widerlicher Verwesungsgeruch schlug uns entgegen, und ich fühlte, wie sich mir der Magen umdrehte. Grüner Eiter quoll aus den Wunden, der Knochen lag blank. Ich rang nach Luft, musste den Kopf wegdrehen. Jetzt bloß nicht schlappmachen, Sybille!, schnauzte ich mich selber an. Los, reiß dich zusammen! Du hast das Kind hergeholt, und jetzt stehst du ihm auch bei! Schweißgebadet presste ich den Kleinen an mich und versuchte, mir das blanke Entsetzen nicht länger anmerken zu lassen. Lächeln, Sybille! Trösten, gut zureden, streicheln.
    Erst als der Knabe auf Station E 6 in seinem Gitterbettchen lag, hörte er auf zu schreien. Völlig fertig mit der Welt schlich ich zu meinem Wagen zurück, an dem – natürlich – ein Knöllchen steckte. Eingeschränktes Halteverbot! 70 Mark!
    Danke fürs Helfen, Sybille.
    Ach, wie wichtig, ach, wie nichtig, dachte ich völlig erschöpft, ist doch die deutsche Bürokratie!
    Als ich eine Viertelstunde später beim Kindergarten vorfuhr, waren meine beiden Prinzenkinder not amused .
    »Mama, wo warst du? Wir warten schon, wie siehst du überhaupt aus? Bäh, du stinkst.«
    Na also. Das war doch ein gelungener Vormittag gewesen.

5
    Treu und brav besuchte ich »mein« afghanisches Schreikind täglich im Krankenhaus, und immer wenn Rahim mich sah, ging das nervenaufreibende Gebrüll wieder los. Ich war für ihn logischerweise die Horrorhexe, die ihm Schmerzen zugefügt hatte und damit an all seinem Elend schuld.
    Er war inzwischen mehrmals operiert worden und humpelte eines Tages auf Krücken durch die Gänge. Wie ich heimlich bemerkte, durchaus ohne zu schreien. Außer wenn er mich sah. Dabei wollte ich ihm doch nur helfen! Aber das muss man einem sechsjährigen, traumatisierten Kraftpaket mit Gebetsmütze, in dessen Ohren man rückwärts sprach, erst einmal erklären!
    Außerdem war ich für Rahim sowieso kein weibliches Wesen. Denn als solches ist man natürlich voll verschleiert, trägt keine Jeans, hat keine blonden Haare und kann auch nicht Auto fahren.
    Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus fand Rahim, der Brüller, erst einmal bei einem Pastorenehepaar in Wolfsburg ein neues Zuhause. Doch dann verbrachte er ein Wochenende bei uns in Bergfeld mit Simon und Vanessa, und auf einmal war der Bann gebrochen: Die Kinder mit ihren vielen Spielsachen, dem großen Garten (und ihrer treu sorgenden Mutter, die rein zufällig immer irgendein leckeres Salamihäppchen hervorzauberte) faszinierten ihn weitaus mehr als das ältere Ehepaar mit bereits erwachsenen Kindern. Deshalb setzte sich Rahim samt Gebetsmütze schreiend im Schneidersitz auf die Erde und verharrte so lange im Sitzstreik, bis er bei uns einziehen durfte.
    Nicht dass wir Freunde geworden wären. Mitnichten! Rahim hasste mich aus tiefster Knabenseele. Ich war doch die mit den Schmerzen gewesen! Aber er kuschelte mit Hund und Kindern im Bett. Eines Tages sah ich beim Blick aus dem Küchenfenster, wie eine kleine gelbe
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