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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder
Autoren: Hera Lind
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Peshawar an.
    »Wer ist Peshawar?«, fragte ich flüsternd seine Frau.
    »Die Stadt mit den riesigen Flüchtlingslagern in Pakistan! Dort sind Millionen Afghanen untergebracht!«
    In einer mir völlig unverständlichen Sprache erklärte Khalid Wakili unser Anliegen. Es kam mir vor, als ließe jemand ein Tonband rückwärts ablaufen, aber egal. In seinen Augen sah ich ein Leuchten, als er nickte, mitschrieb und schließlich den Hörer auflegte.
    »Sie schicken Röntgenbilder.«
    »Na bitte!«, sagte ich und wünschte noch einen schönen Abend.

4
    »Das ist ja ein Kinderbauch voller Splitter!«, sagte der Chirurg der Kinderklinik Hannover, Professor Norbert Meyer, dem ich das erste Röntgenbild unter die Nase hielt. Er kniff die Augen zusammen und hielt die Aufnahme gegen das Licht. »Himmel, Herrgott! Wie kann ein Kind so etwas überleben!«
    »Dort im Flüchtlingslager in Peshawar jedenfalls nicht«, sagte ich mit Nachdruck.
    Der Arzt warf mir einen bedauernden Blick zu.
    »Das Kind lebt nicht mehr lange«, sagte er. »Es müsste im Grunde morgen hier sein.«
    Ich schluckte.
    Der Chirurg betrachtete das Röntgenbild wie einen seltenen Schmetterling.
    »Das ist eine medizinische Herausforderung. Aber ich kann es versuchen.«
    Das ist ja toll!, hämmerte es zwischen meinen Schläfen. Ich erreiche etwas! Er macht es! Er macht es umsonst! Fragen kostet nichts! Er will es versuchen! Wie großartig ist DAS denn? Vielleicht kann ich dem Kind das Leben retten! Entschuldigung. Ich meine natürlich: ER .
    Noch während ich ungeduldig in seinem Sprechzimmer saß, rief Professor Meyer den Aufsichtsrat seiner Klinik an, um das Finanzielle absegnen zu lassen.
    Entschuldigend sagte er: »Formalitäten. Deutsche Bürokratie.«
    »Macht ja nichts.« Ich strahlte. »Hauptsache, es tut sich was!« Meine Gedanken überschlugen sich. Das war schon mal geschafft. Aber jetzt musste es verdammt schnell gehen. Wie brachte ich dieses Kind nur bis morgen hierher? Konzentriert presste ich die Fäuste gegen meine Schläfen. Los, komm schon! Finde eine Lösung! Irgendwer Wichtiges ist da doch zuständig! Denk an die Fernsehbeiträge über Afghanistan!
    Plötzlich spuckte mein Gehirn eine Information aus.
    »Jürgen Todenhöfer«, murmelte ich laut. »Der Bundestagsabgeordnete!«
    »Bitte!« Der Chirurg zeigte auf seinen Stuhl und das Telefon. »Wenn Sie die Reise des kleinen Patienten mit ihm absprechen wollen …« Anschließend vertiefte er sich wieder in das Röntgenbild.
    Mit laut klopfendem Herzen rief ich im Bundestag an und ließ mich mit dem Bundestagsabgeordneten verbinden: »Es geht um Leben und Tod!«
    Jürgen Todenhöfer zögerte nicht lange. Er war ein Mann der Tat. Schon nach kurzer Zeit rief er mich zurück und gab sein Okay: »Das Kind wird morgen früh um sieben von einer Maschine der Bundeswehr in Peshawar abgeholt. Sorgen Sie dafür, dass es pünktlich bereitsteht.«
    »Äh, klar, Mensch, also … ähm … Ich meine, danke!«, stammelte ich und legte auf. »Wie soll ich das nur machen?« Verdattert sah ich den Chirurgen an, der mir fast amüsiert zugesehen hatte.
    Ja, wie machte ich das denn mit MEINEN Kindern? Waschen, kämmen, Köfferchen packen, Butterbrotdose, Äpfelchen, Trinkfläschchen mit Strohhalm und ab?
    »Da bringen Sie aber einen Stein ins Rollen«, sagte der Professor anerkennend. »Sind Sie ein Verein oder so was?«
    »Nein«, sagte ich schlicht. »Ich bin einfach nur ein Mensch. Eine ganz normale Hausfrau und Mutter von neununddreißig Jahren.«
    »Mit einem Herz aus Gold!«, sagte der Arzt beeindruckt.
    »Quatsch. Mit ganz normalem Mitgefühl«, gab ich bescheiden zurück. »Kann ich noch mal telefonieren?«
    Über Khalid Wakili erreichte ich, dass meine Mitstreiter, Samira samt Ehemann, die gerade zufälllig vor Ort waren, den Knaben am nächsten Morgen um sieben in die Bundeswehrmaschine setzen würden.
    Prompt klingelte einen Tag später bei mir in Bergfeld das Telefon: »Knabe lebt noch, in Hannover abgegeben, ist bereits im OP .«
    Ich konnte es nicht fassen. Weil ich nicht lockergelassen hatte, bekam dieses Kind noch eine Chance!
    Jubelnd tanzte ich erst mal eine Runde im Nachthemd durch unser selbst gefliestes Bad.
    Micki, der sich gerade rasierte, ließ den Pinsel sinken. »Großartig, Sybille.« In seinen Augen war so ein Leuchten. »Mein Gott, wie stolz ich auf dich bin!« Wie hatte Micki in der ersten Zeit unserer Verliebtheit immer gesagt? »Wo Derbheit sich mit Grazie paart, beginnt manch edlen
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