Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder
Autoren: Hera Lind
Vom Netzwerk:
Wie können Menschen nur so seelenlos sein! Mich quälten schlimme Schuldgefühle.
    Keine halbe Stunde später saßen wir wieder auf denselben Liegestühlen wie vorher, im Schatten von bunten Schirmen. Mir war, als würde ich aus einem bösen Traum erwachen. Hatte ich dieses Grauen wirklich gesehen? Musik dudelte aus den Lautsprechern, Kinder planschten im Pool, neben uns wurden Krimis gelesen oder Kreuzworträtsel gelöst. Livrierte Hotelangestellte servierten Drinks, Eis für die Kinder und verteilten Tücher, mit denen man sich die rote Rübe kühlen sollte. Wie dekadent! Am Buffet drängelte man sich um Torten und Kuchen. Aus dem Lautsprecher tönte ein bekannter Schlager: »Aber bitte mit Sahne!«
    Mir wurde übel.
    »Ich hatte Cola light bestellt«, herrschte eine Frau meines Alters den tunesischen Kellner an. »Hans-Joachim, ich habe in diesem Urlaub bestimmt schon drei Pfund zugenommen, weil die Kellner so blöd sind! Wenn wir zu Hause sind, musst du mich mit ’ner Sackkarre zum Auto bringen.«
    »Dann mach doch einen Fitnesskurs!« entgegnete Hans-Joachim und wälzte sich auf seinem Liegestuhl wie ein Seeelefant, um seiner Gattin den Rücken zuzukehren. »Hör auf zu jammern!«
    Jammern. Die verkrüppelten Gestalten auf dem Schlachtplatz hatten nicht gejammert.
    Ich drehte mechanisch den Kopf. Wohin ich auch sah, wohlgenährte Körper. Weiter hinten am Strand begann gerade die Aerobicstunde. Ein entsetzlich gut gelaunter Vorturner in schrillem Fitnessdress brüllte zu lauter, rhythmischer Musik ins Mikrofon: »Uuuund: Knie heben, Knie senken, rechtes Bein hoch, und Hüfte drehen, Step vor, Step zurück …« Ein paar mollige Muttis in bunten Badeanzügen versuchten kichernd ihren Urlaubsspeck loszuwerden. Einige Bikinischönheiten stellten ihre makellosen Körper zur Schau.
    Micki kümmerte sich währenddessen um unsere kleinen Mäuse, die gerade mit Schwimmflügeln im Kinderbecken herumtobten. Es war gut, sie abzulenken, damit sie das eben Gesehene möglichst schnell wieder vergaßen.
    Auf Udo Jürgens folgte Bobby McFerrin, » Don’t Worry, Be Happy « – damals der Hit schlechthin.
    Vielleicht sollte ich das jetzt auch tun: Mir keine Gedanken mehr machen. Vergessen. Spaß haben. Aber die Eindrücke von vorhin hatten sich mir regelrecht eingebrannt. Wie konnte man danach einfach so zur Tagesordnung übergehen? Wie sollte man lachend gegen den Wohlstandsspeck anhopsen, wenn man gerade nagendem Hunger und nacktem Elend ins Auge geschaut hatte?
    Plötzlich machte es klick in meinem Kopf. Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass das schreiende Unrecht auf dieser Welt niemals enden wird, wenn nicht einer anfängt, etwas dagegen zu tun.

2
    »Vati, schau mal, diese Rollstühle! Die sind doch noch ganz gut in Schuss!«
    Mein Vater und ich stöberten auf einem Schrottplatz in der Nähe von Wolfsburg herum. Da wir gerade an unserem Haus in Bergfeld bauten, sahen wir uns an den Wochenenden gern hier um – immer auf der Suche nach brauchbaren Dingen, die andere achtlos entsorgt hatten.
    »Liebchen, wozu brauchen wir denn Rollstühle!« Mein Vater kam, die Hände in den Hosentaschen vergraben, gemütlich angeschlendert.
    »Tunesien! Ich hab dir doch von den verkrüppelten Bettlern dort erzählt!«
    »Ach, Schatz!« Mein Vater schüttelte seufzend den Kopf. »Du hast wirklich ein weiches Herz! Denk mal zur Abwechslung an dich und deine Familie! Hier!« Er hielt mir ein blaugelbes Kinderfahrrad unter die Nase. »Das wär doch was für Simon! Das Tretlager ist kaputt, aber das kriege ich wieder hin!« Er klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. »Das repariere ich für meinen Enkel, dann braucht ihr kein Geld für ein Neues auszugeben!«
    Ich straffte die Schultern. »Vati ich meine es ernst! Diese beiden Rollstühle hier, kannst du die wieder flottmachen?«
    Der Besitzer der Schrotthandlung, ein feister Kerl in speckiger Lederjacke, kam rauchend näher. »Für beide zusammen hundert Mark.«
    »Hundert Mark?« Entrüstet starrte ich ihn an. »Die hat jemand weggeworfen!«
    »Neunzig.« Der Kerl zog die Nase hoch. »Die sind noch tadellos. Muss man nur das Rad hier austauschen.«
    »Die sind für arme Obdachlose in Tunesien!«, entrüstete ich mich.
    »Mir doch egal!« Der Schrotthändler warf seinen Zigarettenstummel weg und zog erneut die Nase hoch. »Achtzig. Mein letztes Wort.«
    »Arschloch!«, entfuhr es mir.
    Mein Vater legte das Kinderfahrrad beiseite und sah mich liebevoll an. »Du meinst es ernst,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher